Wie wirken Traumata auf Zeug*innen?

Der Mensch braucht ein traumatisierendes Ereignis nicht unmittelbar selbst zu erleben, um Traumafolgen davonzutragen. Es reicht, wenn eine Person Zeuge oder Zeugin ist.

Der 32jährige S. sah aus dem Fenster seiner Wohnung, weil er Schreie gehört hatte. Etwas entfernt auf der Straße, in der er wohnte, sah er, wie zwei Personen einen anderen Mann zusammenschlugen. Er rief sofort die Polizei an und rannte auf die Straße, um dem betroffenen Mann zu helfen. Doch als er ankam, war alles schon vorbei. Er sah, wie das Opfer blutete und, wie er später erfuhr, zwei Brüche davongetragen hatte. Er war erschüttert und begann zu zittern.

In den nächsten Tagen entwickelte er ähnliche Folgen wie das zusammengeschlagene Opfer. Er vermied es, allein auf der Straße zu gehen, schaute sich ständig um aus Angst vor Verfolgern oder anderen Bedrohungen.

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Was hilft gegen den Zeitkollaps?

Einen Zeitkollaps zu erleben ist zumeist eine negative Erfahrung, weil Schlimmes wieder lebendig wird. Doch auch wenn sich zwei Zeiten ineinander verweben und überlappen und als gleichzeitig erlebt werden, existiert weiterhin ein Zugang zur Gegenwart, zur im Hier und Jetzt erlebten und erlebbaren Zeit. In der Gegenwart einen Sinneskontakt mit den betroffenen Menschen aufzunehmen, ist der Königsweg, sie aus diesem Schrecken heraus zu begleiten:

            „Ich bin hier.“

            „Spüren Sie meine Hand.“

            „Schauen Sie mich an.“

            „Ich passe auf Sie auf.“

            „Sie sind jetzt nicht alleine.“

Es gilt, den im Zeitkollaps lebendig gewordenen Schrecken ernst zu nehmen und nicht zu verniedlichen oder gar zu leugnen. UND durch die Begleitung, durch die sinnlich und sinnhaft spürbare Nähe, können wir betroffenen Menschen dabei helfen, dass das Erleben der sicheren Gegenwart deutlicher und kraftvoller wieder in den Vordergrund tritt.

Wie kann ich mir verzeihen?

Manche Opfer von traumatisierender Gewalt machen sich in der Zeit danach Vorwürfe, dass sie etwas falschgemacht haben. Vielleicht meinen sie, sich nicht genug gewehrt zu haben oder sie werfen sich vor, überhaupt in einer Situation gekommen zu sein, in der ihnen Gewalt angetan wurde. Manche hadern auch mit sich, dass sie zu vertrauensselig gewesen wäre.

„Ich werfe mir immer vor, dass ich zu vertrauensselig war. Ich hätte doch früher merken müssen, worauf das hinausläuft.“

Anderen Menschen zu verzeihen, fällt vielen leichter, als sich selbst etwas zu verzeihen. Wenn Sie Schwierigkeiten haben sollten, sich selbst etwas zu verzeihen, können wir Ihnen zwei Vorschläge machen.
Der eine besteht darin, dass Sie einen Brief an sich selbst schreiben. Beginnen Sie mit „Liebe …“ oder „Lieber…“ und setzen Sie Ihren Namen dorthin. Und dann schreiben Sie auf, was Sie sich vorwerfen, was Sie sich nicht verzeihen können. Und dann schreiben Sie auf, was Sie sich sagen könnten, damit Sie diese Selbstvorwürfe entkräften, was dagegenspricht. Führen Sie alles auf, was Ihnen einfällt, wenn Sie gnädig mit sich sind, wenn Sie gegenüber Ihren Selbstvorwürfen Gnade walten könnten. Wenn Sie diesen Brief geschrieben haben, beenden Sie ihn, grüßen Sie sich, unterschreiben Sie ihn und legen Sie ihn an einen guten Ort. Vielleicht fallen Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt weitere Anmerkungen dazu ein. Der Brief kann fortgeschrieben werden. Sie kommen damit in einen inneren Dialog, der Ihr Gnädig-Sein, Ihre Fähigkeit sich zu verzeihen fördert.
Der zweite Tipp besteht darin, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Sagen Sie einer Person, der Sie vertrauen oder von der Sie möchten, dass Sie Ihr vertrauen können, was Sie sich selbst nicht verzeihen können und bitten Sie um Rückmeldung. Wenn diese andere Person parteilich ist und an Ihrer Seite steht, wenn Sie sie „ent-schuldet“ und Ihnen sagen kann, dass die Täter*innen die Täter waren und dass Sie das Opfer sind, dann kann dies helfen.

Existenzielle Einsamkeit

„ich fühle mich einsam, egal ob Menschen da sind oder nicht,“ sagte eine Frau zu mir. Einsam kann man sich fühlen, auch wenn man nicht allein ist, in der Familie oder auf der Geburtstagsparty. Einsamkeit ist ein Gefühl, Alleinsein ist ein sozialer Zustand. Beide sind nicht dasselbe.

Doch auch bei der Einsamkeit existieren Abstufungen, ja unterschiedliche Qualitäten. Ein Mensch kann sich in einer konkreten Situation einsam fühlen oder dieses Gefühl kann längere Zeit andauern und zu einem Grundgefühl werden, das das Leben begleitet. Für die zitierte Frau war das Einsamkeitsgefühl sogar existenziell. Sie hatte als kleines Kind ein Trauma erlebt und war danach mit ihren Verlustgefühlen allein geblieben. Sie erzählte: „Ich habe gelernt, damit zu leben. Was Beziehungen betrifft, war ich sehr misstrauisch, hab mich nie zugehörig gefühlt, hatte immer Angst, wieder verlassen zu werden. Auch wenn ich mit jemandem zusammen war und vertraute, blieb doch immer ein Stück Einsamkeit in mir.“ Ich nenne dieses Gefühl „existenzielle Einsamkeit“.

Meist ist sie sehr früh entstanden und/oder durch starke traumatisierende Erschütterungen, v.a. durch den Verlust anderer Menschen oder den Verlust der persönlichen Selbstverständlichkeit und Unversehrtheit. Die Menschen wurden dadurch so auf sich zurückgeworfen, dass die Verbindungen zu anderen gekappt wurden wie die Seile eines Schiffes, dass vom Ufer losgerissen wird und allein aufs Meer treibt. Beschleunigt und vertieft wird dieser Prozess, wenn die Umgebung nicht halten und trösten kann, aus Ignoranz oder Überforderung.

Sich solcher Erfahrungen bewusst zu werden, ist ein erster Schritt. Wichtig ist, dass ein Mensch in diesem Prozess nicht allein ist, sondern Verständnis und Trost für seinen Schmerz erfährt. Dann kann es weiter gehen, dann können kleine Schritte gewagt werden, Brücken zu anderen zu bauen und durch Misstrauen und Ängste vor Verlassen-Werden hindurch Begegnungen zuzulassen. Letzten Endes heilen Erfahrungen der Liebe. Die Einsamkeit verschwindet nicht einfach, sie schmilzt. Langsam, aber stetig.

Was hilft gegen Co-Traumatisierungen?

Co-Traumatisierungen entstehen dann, wenn ein Mensch von dem Trauma-Erleben eines anderen Menschen mit erfasst wird. Das Trauma-Erleben springt quasi über und wird zur eigenen Not. Auch hier hilft das gleiche, was allen anderen Menschen, die traumatische Erfahrungen haben und unter den Folgen leiden, helfen kann. Zwei Aspekte kommen hinzu:

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Was hilft gegen Dissoziationen?

Wenn Menschen mit dem Erleben oder Wiedererleben eines traumatischen Ereignisses überfordert sind, schützen sie sich manchmal, indem sie dissoziieren. Darunter wird verstanden, bestimmte Aspekte oder Teile des eigenen Bewusstseins, der Wahrnehmung, der Erinnerung abzuspalten und betäuben. Gelegentlich spüren die Betroffenen nicht, dass sie dissoziieren. Wenn sie es wahrnehmen, fühlt es sich sehr unangenehm an.

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Wird es wieder so wie vorher?

Diese Frage stellen sich viele Menschen, die traumatisiert worden sind. Das trifft unabhängig davon zu, ob sie durch Naturkatastrophen, Verkehrsunfälle oder Gewalt ein Trauma erlitten haben. Viele sehnen sich danach, das, was passiert ist, ungeschehen machen zu können, es aus der biografischen Geschichte auszuradieren, damit wieder alles so wird, wie es einmal war. Ein solches Bestreben ist verständlich, doch es ist leider nicht realistisch. Jede Krise hinterlässt Spuren und ein traumatisches Ereignis ruft eine Krise hervor. Nachwirkungen existenzieller Gefährdungen werden von den betroffenen Menschen außerdem oft zwar betäubt und in den Hintergrund geschoben, können aber auf Dauer nicht ignoriert werden und machen sich immer wieder bemerkbar. Dieser Mechanismus ist nicht angenehm, aber für das Überleben der Menschen sinnvoll, denn er hält dazu an, vorsichtig zu sein und sich nicht wieder in ähnliche Situationen, die existenziell bedrohlich sind, zu begeben.

Das Trauma kann bewältigt und die Folgen können so minimiert werden, dass ein glückliches Leben möglich ist. Bei manchen gelingt dies schneller, bei anderen dauert dies sehr lange. Manche bewältigen die Trauma-Folgen leichter, andere haben große Schwierigkeiten. Die Erfahrung des Traumaerlebens bleibt aber gespeichert. Das kann dazu führen, dass immer wieder einmal ein Aspekt des Trauma-Erlebens angetriggert wird, also wieder lebendig wird. Doch die meisten Betroffenen können dann die Folgen klein halten und die Erinnerung an den Schrecken schnell wieder verblassen lassen, weil sie wissen, was sie brauchen und wo sie Hilfe suchen können. Noch etwas bleibt: die Erfahrung existenzielle Bedrohung des Lebens und der eigenen Lebendigkeit bewältigt zu haben. Diese Erfahrung produziert Kraft, die das weitere Leben fördert. Und diese Erfahrung schafft Wissen darüber, wie solche Bedrohlichkeiten und deren Folgen überwunden werden können. Auch dies kann auf dem weiteren Lebensweg eine sehr wertvolle Unterstützung werden. Ein traumatisches Erleben ist ein Unglück. Doch die meisten betroffenen Menschen können dieses Unglück, diesen Mist in Gold verwandeln. Es wird nicht mehr wie vorher, aber ein glückliches Leben ist möglich und wahrscheinlich. Die Erfahrung der Krisenbewältigung kann darin unterstützen.

Das Traumagedächtnis und die Zeit

Eine Frau Anfang 70 muss ins Krankenhaus und ihre Erkrankung ängstigt sie. Nachts wacht sie dort auf und erinnert sich an Angstträume. Ihr Mann und ihre drei Kinder begleiten sie und geben ihr Halt und Schutz. Doch die Angstträume sind massiv. Sie beziehen sich nicht nur auf die möglichen konkreten Folgen der Erkrankung, sondern vor allem auf den Tod ihres ersten Partners 30 Jahre zuvor.

Als sie wieder gesundet, erzählt sie, dass sie der alte Schock, vielleicht das alte Trauma, wieder eingeholt hat und dass sie es aber nicht verstehe. Sie hat damals so viel getrauert und so viel Schmerz empfunden, dass sie wirklich danieder gesunken war, sich zumindest so fühlte. „Doch dann ging es wieder aufwärts, bis ich schließlich meinen jetzigen Partner kennengelernt habe und nach einiger Zeit auch zulassen konnte, dass wir uns lieben. Seitdem war ich sehr stabil.“

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Was ist ein „Notfall-Koffer“?

Ein medizinischer Notfall-Koffer enthält Pflaster und Medikamente, Verbandsmaterial und ähnliches mehr, um Wunden schnell zu versorgen. Hier geht es um einen Notfall-Koffer für die Seele, mit dem traumatisierten Menschen bei seelischen Krisen und andere Belastungen geholfen werden kann. Vorher dafür zu sorgen, dass Möglichkeiten bereitstehen, mit diesen Krisen und Belastungen umzugehen, ist sinnvoll.
In einen solchen seelischen Notfall-Koffer können zum Beispiel gehören:

  •  Eine Atemübung, die einem gefällt, und/oder ein Bewegungsritual.
  •  Ein Duft, den man mag und der belebt.
  •  Eine Musik oder ein Podcast, das stärkt oder ablenkt.
  •  Ein inneres Bild, das man sich vorstellt, eine positive Szene, an die man sich erinnert, wenn Szenen des Schreckens auftauchen.
  •  Einen Namen und eine Telefonnummer, um mit jemandem zu reden und Unterstützung zu suchen.
  •  Kalt duschen.
  •  Ein neues Kochrezept ausprobieren oder eine Lieblingsserie anschauen, um sich abzulenken.
  •  Sich schminken.
  •  Ein Tier spielen.
  • Bei steigender Erregung etwas tun, was Erregung abbaut, zum Beispiel ein Beet umzugraben oder ein altes Buch zu zerreißen.

Was in diesem Notfall-Koffer hineinkommt, kann jeder Mensch nur selber für sich entscheiden. Wenn etwas nicht funktioniert, sollte es aus dem Notfall-Koffer entfernt werden, dafür anderes hineingetan werden, mit dem man positive Erfahrungen gemacht hat. Ob der Notfall-Koffer ein wirklicher realer Koffer ist oder eine kleine Tasche oder nur aus einer Liste besteht, auf der der Inhalt des Koffers aufgeschrieben wird, wird jeder Mensch unterschiedlich entscheiden und handhaben.

Trauma und der Sinn

Traumatische Erfahrungen werfen bei vielen Menschen Sinnfragen auf. Ein Trauma ist Ausdruck einer existentiellen Bedrohung und diese produziert die Frage nach dem Wofür und Wie der Existenz: Was ist in meinem Leben wirklich wichtig und was nicht? Die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens ist für viele mit einem Bilanzieren verbunden: Was war im Rückblick meines Lebens gut und was nicht? Was war wichtig und was war belanglos? Was hätte ich gern anders gemacht? Was würde ich wieder so machen? … Es ist gut, sich diesen Fragen zu stellen und zu versuchen, sie zu beantworten. Das braucht Zeit. Antworten auf Sinnfragen gelingen nicht auf die Schnelle und sie können meistens nicht allein gefunden werden. Es ist notwendig, sich mit anderen Menschen darüber auszutauschen, mit Menschen, denen man vertraut.

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