Angehörige, vor allem männliche Partner, können auf vielfältige Weise die Rolle eines Täters oder einer Täterin zugewiesen bekommen und diese einnehmen. Vielleicht suchen Sie sich der traumatisierten Partnerin sexuell anzunähern oder Sie widersprechen ihr oder Sie äußern einen aggressiven Satz, weil sie sich ärgern … – all das kann das Erleben der traumatisierten Person so triggern, dass Sie in die Rolle eines Täters gestellt werden. Man bezeichnet dies als Übertragung.
Wenn Sie eine solche Übertragung spüren, dann sollten Sie in jedem Fall innehalten und nicht mit dem, womit Sie gerade mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner beschäftigt sind, fortfahren. Ein wenig Abstand, ein wenig Pause, ein wenig Innehalten sind sinnvoll, damit die Übertragung sich nicht weiter festigt und Sie sich alle in Ihren Rollen als Täter oder Opfer festfahren.
In einem zweiten Schritt steht dann an, die Rollen zu klären, besonders Ihre eigene. Wenn Sie zum Beispiel von Ihrer Frau in eine Täterrolle geschoben werden, dann schlagen wir vor zu sagen: „Ich bin dein Mann und ich liebe dich und ich bin nicht ein Täter.“ Natürlich in Ihren Worten und mit Ihren Ausschmückungen. Sie werden damit nicht sofort durchdringen, aber irgendwann doch. In eine Täterrolle zu geraten, kann man nicht aussitzen.
In einem dritten Schritt ist es dann notwendig sich darum zu kümmern, was Ihre Partnerin, um bei diesem Beispiel zu bleiben, braucht, um aus ihrer Opferrolle herauszukommen. Fragen Sie sie, bieten Sie ihr eine Umarmung an oder sonst etwas, von dem Sie wissen, dass es ihr guttut.
Die größten Schwierigkeiten bereitet es, wenn Sie in eine Übertragungsrolle geraten, die Ihnen eine Täterkomplizenschaft unterstellt. Es macht immer wieder fassungslos, dass und wie lange Menschen zusehen, dass Ihre Kinder vom anderen Elternteil oder anderen nahe stehenden Verwandten und Freunden Gewalt erfahren, oft auch sexualisierte Gewalt. Oft sind es Mütter, die den Töchtern nicht helfen. Ihr Schweigen und ihr Zulassen von Gewalttaten entspricht oft eigener Not, oft drohen ihnen auch die Täter. Diese Mütter haben meist selbst eigene Opfererfahrungen, mit denen sie in ihrer Kindheit und Jugend alleine fertig werden mussten. Das macht die unterlassene Hilfeleistung erklärlich, aber nicht verzeihlich. Auch Opfer haben die Möglichkeit, wenn sie selbst nicht einschreiten können, andere Menschen oder Einrichtungen zu informieren und um Hilfe zu bitten. Und viele tun das. Dies zu unterlassen ist nicht nur unterlassene Hilfeleistung, sondern auch Mittäterschaft und Komplizenschaft.
In familiären und anderen Liebesbeziehungen kann manchmal für die Opfer von traumatisierter Gewalt, die die Komplizenschaft anderer Familienangehöriger erlebt haben, diese Erfahrung dieser Komplizenschaft wieder lebendig werden. Sie können als angehörige Person diese Rolle übertragen bekommen. Möglicherweise werden Sie dann beschuldigt, die traumatisierte Angehörige, „nie“ zu unterstützen und sie und ihre Not „immer“ zu ignorieren. Auch hier gelten die gleichen drei Schritte, die in dem Umgang mit Täterrollen beschrieben worden sind: Erstens innehalten, zweitens aussprechen, was Sie empfinden und was ist, und drittens sich darum kümmern, was die traumatisierte angehörige Person braucht.