Das Wort „Trauma“ bedeutet Wunde. Traumatische Wunden sind nachhaltig und tief. Sie wirken lange nach und schaffen viel Leid. Körperliche Wunden, bei denen die Muskulatur oder Haut verletzt wird, brauchen einen Verband oder sogar einen Gips und andere Schutzhüllen. Das ist bei seelischen Wunden wie den Traumata nach sexueller Gewalt und anderen Entwürdigungen oft ähnlich. Weiter lesen
Unterlassene Hilfeleistung und Mittäterschaft
Mich macht immer wieder fassungslos, dass und wie lange Menschen zusehen, dass ihre Kinder vom anderen Elternteil Gewalt erfahren, oft auch sexuelle Gewalt. Oft sind es Mütter, die meist den Töchtern nicht helfen. Ihr Schweigen und ihr Zulassen von Gewalttaten entspringt oft eigner Not. Oft drohen die Täter. Weiter lesen
Fragen an sich selbst – oder andere?
Viele Menschen wälzen Fragen in ihrem Kopf herum: Wie sehen mich die anderen? Bin ich eine gute Mutter? Werde ich von meinen Kollegen geschätzt? Wird meine Nachbarin die Einladung annehmen, mich zu besuchen? …
Insbesondere viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen (aber nicht nur diese) erzählen, dass in ihnen solche Fragen im Kopf herumkreisen. Sie zermartern sich das Gehirn, um Antworten zu finden. Doch oft vergeblich – ja meistens sogar. Denn es gibt Fragen an uns selbst, die wir beantworten können, aber viele können wir gar nicht beantworten. Wie man sich als Mutter bewertet, da muss man die Kinder fragen, nicht sich selbst. Ob die Nachbarin eine Einladung annimmt, sollte man die Nachbarin fragen. Man selbst kann diese Frage nicht beantworten.
Beziehungsverletzungen brauchen Beziehungsheilung – aber von wem?
Traumatische Erfahrungen sind Beziehungsverletzungen. Traumata werden durch andere Menschen zugefügt. Selbst bei traumatischen Erfahrungen durch Naturkatastrophen ist es entscheidend, wie die anderen Menschen darauf reagieren, ob die Betroffenen im Stich gelassen oder unterstützt und getröstet werden.
Solche Beziehungsverletzungen brauchen neue Beziehungserfahrungen, die heilen können. Doch viele traumatisierte Menschen sind gerade darin, neue Beziehungserfahrungen zu wagen, gehemmt. Das ist nachvollziehbar und verständlich, weil sie gerade in den Beziehungen so sehr verletzt worden sind. Und doch brauchen sie neue Erfahrungen mit anderen Menschen.
Dazu möchte ich zwei Hinweise geben:
Dürfen wir bedürftig sein?
Ich begleitete eine mehrmals traumatisierte Klientin dabei, ihrer Sehnsucht nach Nähe, Liebe, Partnerschaft, Freundschaft nachzugehen. Sie kam gut voran und wagte vieles. Doch immer wieder stockte es und es tauchten grundlegende Zweifel auf. Wir gingen diesen Zweifeln nach und stießen auf eine Frage, die sie oft beschäftigte. Sie formulierte sie so: „Darf ich bedürftig sein? Bestimmt nicht. Oft denke ich, ich bin viel zu bedürftig. Meine Freundin sagt das auch. Ich muss bescheidener sein. Ich muss mich mit dem zufriedengeben, was da ist und was ich habe. Wenn ich mich zu bedürftig fühle und dem nachgehe, wonach ich mich sehne, mache ich mich doch wieder von anderen abhängig. Und das ist gefährlich.“
Warum ich von Debriefing nichts halte
Gruppen-Debriefing wird von nicht wenigen Psycholog*innen als Soforthilfe nach traumatischen Ereignissen empfohlen. Bei bestimmten Ereignissen wie Terroranschlägen oder Unglücken ist eine große Gruppe von Menschen traumatisiert und braucht Betreuung. Jeffrey Mitchel entwickelte dafür in den 80er Jahren das Critical Incident Stress Debriefing (CISD). Im Debriefing werden zum Beispiel nach einem Zug-Unglück die Betroffenen in einer Gruppe aufgefordert zu erzählen, was bei und nach dem Unglück geschehen ist und wie es ihnen dabei ergangen ist.
Warum traumatisierte Menschen unter den Pandemiefolgen besonders leiden
Viele traumatisierte Menschen leiden besonders unter den Folgen der Pandemie. Die Ursache ist darin zu finden, dass mehrere Aspekte, wie die Pandemie erlebt wird, dem Erleben der traumatischen Erfahrung ähneln:
Komplextrauma: Was ist wichtig für die Therapie und die Therapeut*innen
Das grundlegende Ziel der Therapie besteht oft im bloßen Überleben. Es geht nicht mehr darum, bestimmte Beschwernisse und Hindernisse des Lebens so zu verändern, dass ein glücklicheres Leben möglich ist. Es geht vor allem um die Fähigkeit, zu überleben. Eine Zeitlang redete man in der Politik von „state building“ und meinte damit den Aufbau eines Staates. In Afghanistan ist dies massiv gescheitert, in Mali, dem Sudan und anderen Ländern, in denen dies versucht wurde, gibt es Teilergebnisse – aber nicht viel mehr. Bei Komplextraumatisierungen können wir von einem „ego building“, also einer Heranbildung eines neuen Ichs reden. Dabei ist dies kein Neuaufbau, sondern allenfalls ein Wiederaufbau auf den Ruinen der komplex traumatisierenden Erfahrungen. Teile des Inneren Kerns können genutzt werden, andere sind verloren gegangen. Es geht darum, den Klient*innen die Chance zu geben, eine grundlegende Neuentwicklung des Denkens und Fühlens, der Körperlichkeit, der Werte und der Begegnungsmöglichkeiten zu beginnen bzw. fortzuführen. Angeknüpft und aufgebaut werden muss an der Kraft, die die Menschen im Überlebenskampf gezeigt haben.
Was sind Komplextraumata?
Es wird unterschieden zwischen Komplextraumatisierung und der posttraumatischen Belastungsstörungen als Folge von einem Monotrauma. Der Begriff Komplextraumata wurde von der amerikanischen Psychiaterin Judith Herman[1] eingeführt. In der ICD11, die 2022 in Kraft tritt und nach einer Übergangszeit bis 2022 die ICD 10 ersetzt, wird die komplexe posttraumatische Belastungsstörung erstmalig formuliert und aufgeführt. Sie wird als Folge traumatischer Ereignisse plus zusätzlich einer „langandauernden/wiederholten traumatischen Situation, aus der Flucht nicht möglich ist“, definiert. Als Symptome werden zusätzlich zu den aufgeführten Traumafolgen aufgeführt Störungen
- im affektiven Funktionieren (Gewaltausbrüche, Dissoziationen unter Belastung, sehr starke emotionale Reaktionen …)
- in Funktionen des Selbst (Selbsteinschätzung als schwach, wertlos, zerbrochen, generalisierte Scham- und Schuldgefühle)
- in Beziehungsfunktionen (Schwierigkeiten, Beziehungen aufrecht zu erhalten und sich nahe zu fühlen)
Am 30.11.2021 erscheint ein neues Buch von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer: Therapie und Würde – Sprachleib, Würde-Achtsamkeit, Bedeutungsüberhang… Kreative Leibtherapie Band 3
Sprachleib, Würde-Achtsamkeit,Bedeutungsüberhang …
Das Themenspektrum dieses Buches erstreckt sich von der Bedeutung der Sprache und der Poesie in der Zwischenleiblichkeit therapeutischer Begegnungen über das Konzept der Würde-Achtsamkeit sowie zentraler Begriffe wie dem großen UND bis zum Verständnis von Spiritualität im therapeutischen Kontext. Dieses Buch enthält Essays und Vorträge, die den Boden kreativ-leibtherapeutischer Arbeit erweitern, jeder und jedem für sich wertvolle Hilfen und Anregungen zu Themen würdigender Therapie anbieten und zur fachlichen und persönlichen Auseinandersetzung auffordern.
Ein Gewinn für alle, denen Würde ein zentraler Wert in der therapeutischen Theorie und Praxis ist.
Erscheinungsdatum: 30.11.2021
ISBN: 978-3-934933-58-3
Seiten: 210
Preis: 22 Euro
Vorbestellung: www.semnos.de