Eine Frau erzählte mir: „Ich halte es für ganz schlimm, dass ich immer so misstrauisch bin. Immer denke ich, dass das nicht stimmt, was jemand sagt. Immer fürchte ich, dass man mir Böses will. Das ist vor allem bei Menschen sehr stark, die ich neu kennenlerne.“ Sie zog sich vor anderen zurück und wagte kaum noch neue Bekanntschaften, obwohl sie sich nach einer neuen Beziehung sehnte.
Ich fragte sie, seit wann das so wäre. Sie antwortete erst: „Schon immer!“ Dann fiel ihr ein, dass sie als Kind eigentlich sehr zutraulich war. Nachdem sie als Jugendliche eine traumatisierende Gewalterfahrung erlitten hatte, brach ihr Grundvertrauen in andere Menschen zusammen und sie entwickelte eine Haltung des Misstrauens, die ihre sozialen Beziehungen prägte.
Ich sagte ihr und sage es immer wieder: Wer Böses erlebt hat, dessen Misstrauen ist berechtigt. Eine traumatische Erfahrung wird meist von anderen Menschen zugefügt. Insbesondere bei sexueller Gewalt sind das Verwandte oder andere Menschen wie Lehrer*innen, Chorleiter, Trainer*innen, Nachbar*innen, Pfarrer*innen, denen die Opfer vertrauen. Dieses Vertrauen wird gebrochen, wird verraten – also ist Misstrauen angesagt. Es ist dazu da, damit ein Mensch Bedrohungen und damit Wiederholungen der schrecklichen Erfahrung vermieden werden können. Ein Lob dem Misstrauen!
Zu wissen, dass das Misstrauen sinnvoll ist, entlastet viele Opfer traumatisierender Gewalt. Und doch leiden sie darunter, wenn ihr Misstrauen ihre Möglichkeiten von Begegnungen und Beziehungen einschränkt. Deswegen ist ein zweiter Schritt notwendig. Ich frage danach, woran sie den Unterschied merken, ob sie jemandem trauen oder misstrauen sollten. Diese Frage haben sich die meisten noch nie gestellt und sie wird sehr unterschiedlich beantwortet. Manche finden nicht sofort eine Antwort, sondern müssen sich Zeit nehmen, andere zu beobachten und ihren eigenen Resonanzen nachzuspüren.
Die Frau, von der ich erzählte, wusste sofort: „An den Augen!“ Für sie war die Art und Weise wichtig, wie jemand sie anschaute. Bei anderen ist es die Stimme, sind es die Bewegungen oder „ob ich jemanden riechen kann“. Solchen Spuren nachzugehen, kann nicht vor jegliche Bedrohungen schützen. Aber es ermöglicht, das Misstrauen zu ehren, um Bedrohungen zu reduzieren, UND gleichzeitig die Möglichkeiten, jemandem zu vertrauen, wahrzunehmen und zu erweitern.
PS.: Unser Blog geht in die Sommerpause. Mitte September melden wir uns dann wie gewohnt zurück.