Wie geht Aufrichten: Mein Boden

Viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen wurden erniedrigt und sie fühlen sich erniedrigt. Ihre Herausforderung besteht darin, sich aus der Erniedrigung heraus wieder aufzurichten, einen Weg zu finden, aufrecht und aufrichtig durchs Leben zu gehen.

Doch wer sich aufrichten möchte, muss erst einmal den Blick nach unten zum Boden werfen. Mir hat einmal ein Pantomime erklärt: „Wenn ich pantomimisch darstellen will, dass ich mich nach oben wende, dann muss ich zuerst mit meinem Fuß fest auf den Boden stampfen, um von dort aus einen Bewegungsimpuls nach oben zu beginnen.“ So ist das auch, wenn jemand den Boden unter den Füßen verloren hat. -Wie kann man sich dann aufrichten? Es beginnt mit dem Boden.

Eine kleine Übung hilft:

Weiter lesen

Aufrichten braucht Halt

Wer erniedrigt wurde, verliert oft den Halt. Erniedrigung führt dazu, dass erniedrigten Menschen schwanken und unsicher sind. Zumindest trifft dies bei vielen zu. Wer den Halt verliert, braucht Menschen, an denen er sich festhalten kann und die ihn festhalten.

Notieren Sie auf einem Zettel in einer linken Spalte, welche Menschen Ihnen einfallen, an denen Sie sich festhalten können. Vielleicht kommen Ihnen Menschen in den Sinn, an die Sie bisher nicht gedacht haben, die in Ihren sozialen Bezügen vielleicht etwas ferner und weiter von Ihnen eingeordnet werden. Nehmen Sie ernst, dass diese Menschen Ihnen eventuell einen Halt bieten können, und versuchen Sie mit Ihnen mehr Kontakt aufzunehmen als bislang.

In die rechte Spalte schreiben Sie die Menschen, die Ihnen keinen Halt geben bzw. die Ihre Unsicherheit noch verstärken. Manchmal sind dies Verwandte, Kolleg*innen oder andere, die Sie nicht einfach „umtauschen“ können. Doch nehmen Sie auch dort Ihre Eindrücke wahr und versuchen Sie, soweit es möglich ist, den Kontakt zu verringern und die Begegnungen mit Menschen, die Ihnen Halt geben können, in den Vordergrund zu stellen.

Diese Differenzierung kann helfen.

Lästern kann entlasten

Viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen trauen sich nicht, ihre aggressiven Gefühle gegenüber anderen zu zeigen. Manche betreiben das Gegenteil und sind aggressiv gegen die gesamte Welt. Doch die Scheuen und Zurückhaltenden sind die Mehrheit. Sie wollen nicht so werden wie diejenigen, die ihnen Schlimmes angetan haben. Deswegen verbieten sie sich auch, über andere „herzuziehen“, so wie es oft genannt wird, wenn man lästert.

Doch Lästern kann entlasten. Das Wort Last ist in beiden Begriffen enthalten. Wenn wir Menschen „ablästern“, also laut stöhnen oder schimpfen über andere und auch einmal etwas unkontrolliert Kritisches sagen, dann tut das gut, weil es zurückgehaltene Aggressivität in uns einen Weg aus unserem Herzen finden lässt. Weiter lesen

Stöhnen statt Scham

Menschen, die traumatische Erfahrungen vor allem durch Gewalt erleben mussten, wurden niedergedrückt und erniedrigt. Sich fallen zu lassen, ja sich selbst ein wenig niederzusinken, ist für sie oft mit Scham und Furcht verbunden. Weil es daran erinnert, niedergedrückt zu werden.

Doch niederzusinken kann auch ein Ausdruck davon sein, sich lustvoll und entspannt fallenzulassen. Wenn das im Erleben nicht oder nur selten gelingt, schlage ich Ihnen eine kleine Übung vor:

Stellen Sie sich aufrecht hin. Nun lassen Sie sich mit dem Oberkörper, den Armen und dem Kopf etwas nach vorne sinken, immer mehr, und begleiten Sie dies mit einem lauten Stöhnen. Das Stöhnen hilft nicht nur, die Luft aus dem Körper zu lassen, sondern auch das Leidvolle, was Sie einatmen mussten. Probieren Sie aus, wie Sie stöhnen können, seufzen können, ächzen können, und lassen Sie dabei Arme und Oberkörper, so gut es geht, fallen. Das kann bis ganz unten zum Boden reichen. Aber es reicht auch ein Zentimeter  … Weiter lesen

Der große und der kleine Schmerz

Ich werde oft gefragt, ob es richtig ist, Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, auf diese anzusprechen. Ich kann diese Frage nicht generell beantworten. Es hilft, die betroffenen Menschen selbst zu fragen: „Möchtest du darüber reden oder lieber nicht?“

Doch einen wichtigen Hinweis kann ich geben, der sich aus meinen Erfahrungen ergibt. Die traumatische Erfahrung können wir als großen Schmerz bezeichnen. Wenn wir davon als Angehörige, Seelsorger*innen, Berater*innen, Therapeut*innen usw. etwas mitbekommen, ist es wichtig, diesen Schmerz nicht zu ignorieren, weil die betroffenen traumatisierten Menschen dann wieder einmal allein gelassen würden, was ihnen schon oft genug passiert ist. Wer unter schlimmen Erfahrungen leidet, sollte hören: „Ja, es ist schlimm!“ Wer große Schmerzen erleidet, körperliche oder seelische, sollte Mitgefühl und Verständnis erfahren: „Ja, es tut weh und es tut mir leid!“ Wer darüber reden möchte, sollte das tun dürfen. Weiter lesen

Leibgarde

Die Mächtigen dieser Welt haben eine Leibgarde. Manchmal werden sie als Präsidialpolizei oder Sicherheitstruppe oder anders bezeichnet. Der Name ist zweitrangig. Schon in den alten Zeiten der römischen Kaiser hatten diese Leibgarden, die sie beschützten und auf sie aufpassten. Auch Opfer brauchen eine Leibgarde, brauchen andere Menschen, die ihnen zur Seite stehen und die ihnen Schutz bieten.

Diese Leibgarde muss nicht bewaffnet sein und erst recht nicht militärisch ausgebildet. Aber es müssen Menschen sein, denen Opfer vertrauen und an die sie sich wenden können, wenn sie in Not sind, verunsichert sind, ängstlich sind usw.

Weiter lesen

Straflos

Viele Opfer traumatisierender Gewalt sind darüber entsetzt, dass Täter*innen straflos davonkommen. Und wenn sie bestraft werden, wird diese Strafe meist als unangemessen empfunden, als zu gering im Vergleich zu dem Schaden und Leid, das den Opfern zugefügt wurde. Sie machen dann das Rechtssystem oder Vorurteile oder Parteilichkeit mit den Täter*innen dafür verantwortlich. Das kann alles der Fall sein. Viele dieser Vorwürfe sind berechtigt.

Doch nach meinen Erfahrungen müssen Opfer immer damit leben, dass nach ihren eigenen Gefühlen und Bewertungen die Täter*innen zu geringe oder gar keine Strafen erhalten. Ich bedaure das. Und doch ist es ein Teil der Lebenswelt und der Realität, an der Opfer wenig verändern können, auch wenn sie darüber rasende Wut empfinden oder andere Ausdrucksformen ihrer Ohnmacht leben. Die Gründe für diese Straflosigkeit liegen meines Erachtens an zweierlei Faktoren:

Weiter lesen

„Was brauchst du?“

Eine Klientin erzählte mir einmal, dass sie von ihrem Partner oft gefragt wird, was sie braucht: „Ich weiß es dann nicht. Ich gebe mir Mühe, das zu beantworten. Und es ist ja auch gut, dass er mich fragt. Aber ich kann dann nicht antworten. Mir fällt dann nichts ein. Ich verstumme, manchmal erstarre ich sogar.“

Solche Erfahrungen machen viele Menschen, die in Not sind, ob durch traumatische Erfahrungen oder andere Entwürdigungen. Wenn es ihnen gut geht, wissen sie, was sie brauchen, wünschen, benötigen, und können dies auch mehr oder weniger klar äußern oder zumindest auf entsprechende Fragen antworten. Doch wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie niedergedrückt sind oder irgendwie in Not, dann verstummen sie, dann finden sie keine Antworten. Das ist keine individuelle Störung, sondern ein sehr häufiges Symptom von Not. Die Kraft reicht dann für manche nicht mehr, überhaupt Entscheidungen zu treffen, was man wünscht und möchte, und solche Fragen zu beantworten.

Weiter lesen

Die Sehnsucht und der erste Schritt

Viele Menschen, die Schlimmes erlebt haben, sehnen sich danach, dass alles wieder gut wird. Mit „alles wieder gut“ meinen sie oft, dass es so wird wie früher, wie vor dem traumatisierenden Ereignis. Diese Sehnsucht ist berechtigt. Und sie ist rückwärtsgewandt. Unsere Lebenserfahrungen zeigen, dass fast nichts mehr so werden kann, wie es einmal früher war. Wir haben uns verändert. Unsere Umgebung hat sich verändert. Das Leben hat sich verändert. Also ist eine Wiederholung nicht mehr möglich, auch wenn die Sehnsucht danach besteht.

Weiter lesen

Musik kann umarmen

Oft fühlen sich traumatisierte Menschen einsam oder niedergeschlagen. Das, was mit ihnen geschehen ist, ist unfassbar. Mit dieser unfassbaren Erfahrung fühlen sie sich manchmal allein.

Ich weiß aus persönlichen Erfahrungen, vor allem aus der Begleitung vieler Opfer traumatisierender Gewalt, dass Musik umarmen kann. Wenn kein Mensch da ist oder gerade in einem Moment, wo er gebraucht wird, fehlt, kann an seiner Stelle Musik eine Umarmung anbieten.

Eine Klientin erzählte:

„Ich habe eine Umarmungsmusik. Die tröstet mich, die schließt mich ein, die umarmt mich und hält mich fest. Es ist AIR von Bach. Immer wenn ich mich allein fühle, erstarre ich zumindest ein wenig und kann mich kaum bewegen. Und dann höre ich diese Umarmungsmusik. Sie beruhigt mich, gibt mir Halt. Dann kann ich auch wieder jemanden anrufen oder irgendwie in Bewegung kommen und etwas tun.“

Welche Umarmungsmusik für Sie die passende und richtige ist, weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur empfehlen, danach zu suchen und sie auszuprobieren. Wenn Sie merken, dass es nicht die richtige Musik ist, dann tauschen Sie sie gegen eine andere aus. Probieren Sie, bis es für Sie stimmig ist, bis Sie merken: Das ist eine Musik, die mich hält, tröstet und umarmt!