Straflos

Viele Opfer traumatisierender Gewalt sind darüber entsetzt, dass Täter*innen straflos davonkommen. Und wenn sie bestraft werden, wird diese Strafe meist als unangemessen empfunden, als zu gering im Vergleich zu dem Schaden und Leid, das den Opfern zugefügt wurde. Sie machen dann das Rechtssystem oder Vorurteile oder Parteilichkeit mit den Täter*innen dafür verantwortlich. Das kann alles der Fall sein. Viele dieser Vorwürfe sind berechtigt.

Doch nach meinen Erfahrungen müssen Opfer immer damit leben, dass nach ihren eigenen Gefühlen und Bewertungen die Täter*innen zu geringe oder gar keine Strafen erhalten. Ich bedaure das. Und doch ist es ein Teil der Lebenswelt und der Realität, an der Opfer wenig verändern können, auch wenn sie darüber rasende Wut empfinden oder andere Ausdrucksformen ihrer Ohnmacht leben. Die Gründe für diese Straflosigkeit liegen meines Erachtens an zweierlei Faktoren:

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„Was brauchst du?“

Eine Klientin erzählte mir einmal, dass sie von ihrem Partner oft gefragt wird, was sie braucht: „Ich weiß es dann nicht. Ich gebe mir Mühe, das zu beantworten. Und es ist ja auch gut, dass er mich fragt. Aber ich kann dann nicht antworten. Mir fällt dann nichts ein. Ich verstumme, manchmal erstarre ich sogar.“

Solche Erfahrungen machen viele Menschen, die in Not sind, ob durch traumatische Erfahrungen oder andere Entwürdigungen. Wenn es ihnen gut geht, wissen sie, was sie brauchen, wünschen, benötigen, und können dies auch mehr oder weniger klar äußern oder zumindest auf entsprechende Fragen antworten. Doch wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie niedergedrückt sind oder irgendwie in Not, dann verstummen sie, dann finden sie keine Antworten. Das ist keine individuelle Störung, sondern ein sehr häufiges Symptom von Not. Die Kraft reicht dann für manche nicht mehr, überhaupt Entscheidungen zu treffen, was man wünscht und möchte, und solche Fragen zu beantworten.

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Die Sehnsucht und der erste Schritt

Viele Menschen, die Schlimmes erlebt haben, sehnen sich danach, dass alles wieder gut wird. Mit „alles wieder gut“ meinen sie oft, dass es so wird wie früher, wie vor dem traumatisierenden Ereignis. Diese Sehnsucht ist berechtigt. Und sie ist rückwärtsgewandt. Unsere Lebenserfahrungen zeigen, dass fast nichts mehr so werden kann, wie es einmal früher war. Wir haben uns verändert. Unsere Umgebung hat sich verändert. Das Leben hat sich verändert. Also ist eine Wiederholung nicht mehr möglich, auch wenn die Sehnsucht danach besteht.

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Musik kann umarmen

Oft fühlen sich traumatisierte Menschen einsam oder niedergeschlagen. Das, was mit ihnen geschehen ist, ist unfassbar. Mit dieser unfassbaren Erfahrung fühlen sie sich manchmal allein.

Ich weiß aus persönlichen Erfahrungen, vor allem aus der Begleitung vieler Opfer traumatisierender Gewalt, dass Musik umarmen kann. Wenn kein Mensch da ist oder gerade in einem Moment, wo er gebraucht wird, fehlt, kann an seiner Stelle Musik eine Umarmung anbieten.

Eine Klientin erzählte:

„Ich habe eine Umarmungsmusik. Die tröstet mich, die schließt mich ein, die umarmt mich und hält mich fest. Es ist AIR von Bach. Immer wenn ich mich allein fühle, erstarre ich zumindest ein wenig und kann mich kaum bewegen. Und dann höre ich diese Umarmungsmusik. Sie beruhigt mich, gibt mir Halt. Dann kann ich auch wieder jemanden anrufen oder irgendwie in Bewegung kommen und etwas tun.“

Welche Umarmungsmusik für Sie die passende und richtige ist, weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur empfehlen, danach zu suchen und sie auszuprobieren. Wenn Sie merken, dass es nicht die richtige Musik ist, dann tauschen Sie sie gegen eine andere aus. Probieren Sie, bis es für Sie stimmig ist, bis Sie merken: Das ist eine Musik, die mich hält, tröstet und umarmt!

 

Ein Lob des Misstrauens

Eine Frau erzählte mir: „Ich halte es für ganz schlimm, dass ich immer so misstrauisch bin. Immer denke ich, dass das nicht stimmt, was jemand sagt. Immer fürchte ich, dass man mir Böses will. Das ist vor allem bei Menschen sehr stark, die ich neu kennenlerne.“ Sie zog sich vor anderen zurück und wagte kaum noch neue Bekanntschaften, obwohl sie sich nach einer neuen Beziehung sehnte.

Ich fragte sie, seit wann das so wäre. Sie antwortete erst: „Schon immer!“ Dann fiel ihr ein, dass sie als Kind eigentlich sehr zutraulich war. Nachdem sie als Jugendliche eine traumatisierende Gewalterfahrung erlitten hatte, brach ihr Grundvertrauen in andere Menschen zusammen und sie entwickelte eine Haltung des Misstrauens, die ihre sozialen Beziehungen prägte.

Ich sagte ihr und sage es immer wieder: Wer Böses erlebt hat, dessen Misstrauen ist berechtigt. Eine traumatische Erfahrung wird meist von anderen Menschen zugefügt. Insbesondere bei sexueller Gewalt sind das Verwandte oder andere Menschen wie Lehrer*innen, Chorleiter, Trainer*innen, Nachbar*innen, Pfarrer*innen, denen die Opfer vertrauen. Dieses Vertrauen wird gebrochen, wird verraten – also ist Misstrauen angesagt. Es ist dazu da, damit ein Mensch Bedrohungen und damit Wiederholungen der schrecklichen Erfahrung vermieden werden können. Ein Lob dem Misstrauen!

Zu wissen, dass das Misstrauen sinnvoll ist, entlastet viele Opfer traumatisierender Gewalt. Und doch leiden sie darunter, wenn ihr Misstrauen ihre Möglichkeiten von Begegnungen und Beziehungen einschränkt. Deswegen ist ein zweiter Schritt notwendig. Ich frage danach, woran sie den Unterschied merken, ob sie jemandem trauen oder misstrauen sollten. Diese Frage haben sich die meisten noch nie gestellt und sie wird sehr unterschiedlich beantwortet. Manche finden nicht sofort eine Antwort, sondern müssen sich Zeit nehmen, andere zu beobachten und ihren eigenen Resonanzen nachzuspüren.

Die Frau, von der ich erzählte, wusste sofort: „An den Augen!“ Für sie war die Art und Weise wichtig, wie jemand sie anschaute. Bei anderen ist es die Stimme, sind es die Bewegungen oder „ob ich jemanden riechen kann“. Solchen Spuren nachzugehen, kann nicht vor jegliche Bedrohungen schützen. Aber es ermöglicht, das Misstrauen zu ehren, um Bedrohungen zu reduzieren, UND gleichzeitig die Möglichkeiten, jemandem zu vertrauen, wahrzunehmen und zu erweitern.

 

PS.: Unser Blog geht in die Sommerpause. Mitte September melden wir uns dann wie gewohnt zurück.      

Völlig losgelöst

Das alte Lied „Völlig losgelöst“ (bekannt als „Major Tom“) wurde bei der Fußball-Europa-Meisterschaft vom DFB offiziell zur Torhymne der deutschen Mannschaft bestimmt und wird bei jedem Tor in den Stadien gespielt. Wenn ich es bei den Fernseh-Übertragungen höre, läuft mir jedes Mal ein Schauer über Rücken. Der Text handelt vom Suizid eines depressiven Raumfahrers. Niemand erwähnt das. Dass das Lied bei Partys gegrölt und in der Adidas-Werbung gespielt wird, ist geschmacklos genug. Ein Klick bei Google reicht, um den Text zu lesen. Es von der Zentrale des Deutschen Fußball zum offiziellen Song für Torjubel auszuwählen, ist für mich unfassbar. Er kann bei vielen Menschen, die einen Angehörigen oder eine Freund*in durch Suizid verloren haben und vielleicht dadurch traumatisiert sind, Schrecken reaktivieren. Dieses Lied ist keine Hymne. Es als Jubel zu spielen, ist entwürdigend.

Erinnern und Gedenken

Auf einem evangelischen Kirchentag in Berlin wurde darüber diskutiert, was Erinnern und Gedenken unterscheidet. Meine Antwort auf diese Frage lautet:

Erinnern ist ein offener Prozess des Erlebens. Wir erinnern uns mit unserem Denken und Fühlen. Wir können uns bewusst an etwas erinnern (das lernen wir in der Schule) und wir werden von Erinnerungen überfallen, manchmal überflutet (wie bei traumabedingten Flashbacks). Es gibt Erinnerungen, die guttun, und solche, die uns schmerzen …

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Wenn Blicke nicht aushaltbar sind…

Menschen, die traumatische Erfahrungen machen mussten, werden oft von Blicken „getriggert“, das heißt, dass Blicke anderer Menschen die leibliche Erinnerung an Traumata, z. B. sexuelle Gewalt auslösen. Für sie sind Blicke oft nicht aushaltbar, da Augenkontakt mit Hilflosigkeit und Opfersein verbunden ist. Sie haben vielleicht die Erfahrung, von Tätern „ausgeguckt“ worden zu sein – unbefangener Blickkontakt ist für sie dann meist unerträglich.

Gleichzeitig spüren sie oft eine große Sehnsucht, gesehen zu werden – allerdings mit Respekt. Sie befinden sich folglich in einem Dilemma, sich nach Blickkontakt zu sehnen und ihn gleichzeitig nicht auszuhalten. Mit diesen Menschen hat sich ein Weg bewährt, den wir Fächertanz nennen. Er ermöglicht, mit Hinschauen und Wegschauen, Sich-Verstecken und Sich-Zeigen zu spielen und so neue Erfahrungen mit Blicken zu machen.

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Filmplakat

Wenn Menschen an bestimmten Szenen festhalten, kann man mit der Arbeit am Filmplakat dieses Feststecken aufweichen. Ein Filmplakat zeigt einen Ausschnitt aus einem Film. Sie können ein Filmplakat malen. Lassen Sie ein Bild entstehen, dass sie gerade bewegt. Nicht das Schreckensbild des Traumas, dem sollten Sie sich nur stellen, wenn Sie sich in guter therapeutischer Begleitung befinden. Aber nehmen Sie eine andere Szene aus Ihrem Leben, die Ihnen jetzt gerade wichtig ist. Dann malen Sie diese Szene.

Nun überlegen Sie: Was könnte dieser Szene vorangegangen sein bzw. wie kann diese Szene weitergehen? Machen Sie aus dem Standbild ein bewegtes Bild, eine Geschichte. Sie können diese malen, erzählen oder mit jemandem austauschen. Entscheidend ist nicht die genaue Geschichte, sondern dass das Erstarrte in Bewegung gerät.

Die Geschichte Satz für Satz

Die Geschichte Satz für Satz

Eine weitere hilfreiche Methode, die Bilder und Szenen traumatisierenden Schreckens zu verringern, besteht darin, eine Geschichte zu schreiben. Nehmen Sie sich Papier und einen Stift, mit dem Sie gerne schreiben, und überlegen Sie, wer die Hauptfigur Ihrer Geschichte sein soll. Wählen Sie sich nicht selbst, sondern denken Sie sich einen Fantasienamen aus und bestimmen Sie das Alter dieser Person. Wenn die Person zum Beispiel 24 Jahre alt ist und Nadine heißt, schreiben Sie nun als ersten Satz: „Als Nadine losging, wusste sie ….“ Und dann vollenden Sie diesen Satz.

Sie können auch damit beginnen: „Als Nadine beschloss, …“ Oder Sie fangen mit einem anderen ersten Satz an, in dem Ihre Hauptperson der Geschichte vorkommt.

Und dann setzen Sie die Geschichte fort, indem Sie dem ersten Satz einen zweiten Satz anfügen und dann wieder einen dritten usw. Bitte überlegen Sie sich keine ganze Geschichte, sondern lassen Sie die Geschichte entstehen, indem Sie für jeden Satz Ihr Augenmerk auf den darauffolgenden Satz wenden. Schritt für Schritt, Satz für Satz.

Wenn Sie genug haben und nicht mehr weiterschreiben wollen oder die Geschichte zunächst einmal zu Ende ist, dann lesen Sie diese Geschichte noch einmal durch. Vielleicht lesen Sie sie sich laut vor, ganz wie Sie wollen. Manche Menschen schreiben ihre Geschichte auch zu einem späteren Zeitpunkt weiter, sodass eine kleine Fortsetzungsgeschichte daraus entsteht. Lassen Sie sich überraschen.