Erinnern und Gedenken

Auf einem evangelischen Kirchentag in Berlin wurde darüber diskutiert, was Erinnern und Gedenken unterscheidet. Meine Antwort auf diese Frage lautet:

Erinnern ist ein offener Prozess des Erlebens. Wir erinnern uns mit unserem Denken und Fühlen. Wir können uns bewusst an etwas erinnern (das lernen wir in der Schule) und wir werden von Erinnerungen überfallen, manchmal überflutet (wie bei traumabedingten Flashbacks). Es gibt Erinnerungen, die guttun, und solche, die uns schmerzen …

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Wenn Blicke nicht aushaltbar sind…

Menschen, die traumatische Erfahrungen machen mussten, werden oft von Blicken „getriggert“, das heißt, dass Blicke anderer Menschen die leibliche Erinnerung an Traumata, z. B. sexuelle Gewalt auslösen. Für sie sind Blicke oft nicht aushaltbar, da Augenkontakt mit Hilflosigkeit und Opfersein verbunden ist. Sie haben vielleicht die Erfahrung, von Tätern „ausgeguckt“ worden zu sein – unbefangener Blickkontakt ist für sie dann meist unerträglich.

Gleichzeitig spüren sie oft eine große Sehnsucht, gesehen zu werden – allerdings mit Respekt. Sie befinden sich folglich in einem Dilemma, sich nach Blickkontakt zu sehnen und ihn gleichzeitig nicht auszuhalten. Mit diesen Menschen hat sich ein Weg bewährt, den wir Fächertanz nennen. Er ermöglicht, mit Hinschauen und Wegschauen, Sich-Verstecken und Sich-Zeigen zu spielen und so neue Erfahrungen mit Blicken zu machen.

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Filmplakat

Wenn Menschen an bestimmten Szenen festhalten, kann man mit der Arbeit am Filmplakat dieses Feststecken aufweichen. Ein Filmplakat zeigt einen Ausschnitt aus einem Film. Sie können ein Filmplakat malen. Lassen Sie ein Bild entstehen, dass sie gerade bewegt. Nicht das Schreckensbild des Traumas, dem sollten Sie sich nur stellen, wenn Sie sich in guter therapeutischer Begleitung befinden. Aber nehmen Sie eine andere Szene aus Ihrem Leben, die Ihnen jetzt gerade wichtig ist. Dann malen Sie diese Szene.

Nun überlegen Sie: Was könnte dieser Szene vorangegangen sein bzw. wie kann diese Szene weitergehen? Machen Sie aus dem Standbild ein bewegtes Bild, eine Geschichte. Sie können diese malen, erzählen oder mit jemandem austauschen. Entscheidend ist nicht die genaue Geschichte, sondern dass das Erstarrte in Bewegung gerät.

Die Geschichte Satz für Satz

Die Geschichte Satz für Satz

Eine weitere hilfreiche Methode, die Bilder und Szenen traumatisierenden Schreckens zu verringern, besteht darin, eine Geschichte zu schreiben. Nehmen Sie sich Papier und einen Stift, mit dem Sie gerne schreiben, und überlegen Sie, wer die Hauptfigur Ihrer Geschichte sein soll. Wählen Sie sich nicht selbst, sondern denken Sie sich einen Fantasienamen aus und bestimmen Sie das Alter dieser Person. Wenn die Person zum Beispiel 24 Jahre alt ist und Nadine heißt, schreiben Sie nun als ersten Satz: „Als Nadine losging, wusste sie ….“ Und dann vollenden Sie diesen Satz.

Sie können auch damit beginnen: „Als Nadine beschloss, …“ Oder Sie fangen mit einem anderen ersten Satz an, in dem Ihre Hauptperson der Geschichte vorkommt.

Und dann setzen Sie die Geschichte fort, indem Sie dem ersten Satz einen zweiten Satz anfügen und dann wieder einen dritten usw. Bitte überlegen Sie sich keine ganze Geschichte, sondern lassen Sie die Geschichte entstehen, indem Sie für jeden Satz Ihr Augenmerk auf den darauffolgenden Satz wenden. Schritt für Schritt, Satz für Satz.

Wenn Sie genug haben und nicht mehr weiterschreiben wollen oder die Geschichte zunächst einmal zu Ende ist, dann lesen Sie diese Geschichte noch einmal durch. Vielleicht lesen Sie sie sich laut vor, ganz wie Sie wollen. Manche Menschen schreiben ihre Geschichte auch zu einem späteren Zeitpunkt weiter, sodass eine kleine Fortsetzungsgeschichte daraus entsteht. Lassen Sie sich überraschen.

Die Zeit davor

Ich begegne oft Menschen, die in einem bestimmten Aspekt des Trauma-Erlebens feststecken. Ich möchte in den nächsten drei Blog-Texten verschiedene Blickwinkel oder Methoden vorstellen, die diesem Feststecken entgegenwirken und die Erstarrung lösen können.

Der erste Hinweis betrifft die Zeit davor, die Zeit vor dem traumatischen Ereignis. Diese Zeit wird oft überschattet von dem, was durch das Ereignis hervorgerufen wurde. Die Zeit davor verschwindet hinter dem Schrecken des Traumas und dessen Folgen.

Es kann hilfreich sein, sich explizit mit der Zeit davor zu beschäftigen. Stellen Sie sich Fragen, wie zum Beispiel:

Wie ging es mir in der Zeit davor?

Was hat mir gutgetan?

An welche positiven Erfahrungen erinnere ich mich?

Wer hat mich unterstützt?

Worüber habe ich gelacht?

Mit wem war ich gern zusammen?

Welche Musik habe ich gehört?

Was habe ich gern gegessen?

Was habe ich gelesen? …

Schreiben Sie sich die Antworten auf die entsprechenden Fragen auf oder malen Sie Szenen, die Ihnen eingefallen sind oder skizzieren Sie einfach nur die Atmosphäre, die in Ihnen entsteht, wenn Sie sich mit diesen Fragen zu der Zeit davor beschäftigen.

Die Erinnerungen an die Zeit davor können und sollen nicht die traumatischen Erfahrungen überdecken oder entfernen. Aber sie können ein Gegengewicht dagegen bilden, dass sich der traumatisierende Schrecken festzurrt und so übermächtig wird, dass er das Erleben der betroffenen Menschen beeinträchtigt.

 

Schwäche zeigen ist stark

Als Emma weint, lachen andere Kinder sie aus: »Heulsuse, Heulsuse!« Emma weint oft. Sie hat ihre Mutter verloren und ist seitdem sehr verunsichert und den Tränen sehr nahe.

Die Erzieherin möchte Emma schützen und bemüht sich, die anderen Kinder zu stoppen. Das gelingt nur kurzfristig. Also bietet sie eine Gruppenarbeit zum Thema an: »Wenn mir etwas weh tut.« Die Kinder erzählen von aufgeplatzter Haut am Knie, von Bauchschmerzen, vom gebrochenen Arm … »Kennt ihr auch Schmerzen, die man nicht sieht? Dass es innendrin weh tut, im Kopf oder im Herzen, in den Gedanken?« Urs sagt, dass er oft traurig ist, dass sein Papa nicht mehr bei ihnen wohnt. Auch andere erzählen.

Die Erzieherin erzählt vom Schmerzfresserchen, einem Wesen, das den Schmerz aufessen kann. Aber nur, wenn ein Kind den Schmerz zeigt. Zum Beispiel, indem es weint. Mit Tränen kann der Schmerz herausfließen. Wenn Kinder weinen, weiß das Schmerzfresserchen, dass es helfen muss.

Die Kinder malen ihr Schmerzfresserchen.

Dieses Beispiel zeigt, wie verpönt es immer noch ist, Schmerzen und damit Schwäche zu zeigen. Die Erzieherin geht damit beispielhaft um, sie macht es zum Thema der ganzen Gruppe.

Es gibt zahlreiche tolle Angebote, in denen Kinder ermutigt werden, stark zu werden. »Starke Kinder …« und andere mehr. Diese Angebote sind hilfreich. Doch es fehlt etwas. Kinder brauchen auch die Erlaubnis, ihre Schwäche zu zeigen – oder das, was dafür gehalten wird. Ihre Angst, ihre Traurigkeit, ihre Unsicherheit …

Alle Kinder, und traumatisierte Kinder besonders, brauchen eine Ermutigung, ihre Schwächen zu zeigen. Nur dann können sie geteilt werden und geteiltes Leid ist halbes Leid. Nur dann können sie getröstet werden oder andere Unterstützung erfahren. Machen Sie die Erlaubnis, schwach zu sein, zum Thema. Unterstützen Sie Kinder, die ihre Not zeigen. Seien Sie Vorbild, indem Sie auch einmal teilen, dass Ihnen etwas weh tut oder Sie nicht so gut drauf sind.

 

Ermutigen Sie Kinder, ihre Schwächen zu zeigen.

 

Buchtipp:

Udo Baer „Traumatisierte Kinder sensibel begleiten“

Basiswissen und Praxisideen

In jeder Kita-Gruppe gibt es ungefähr ein bis zwei Kinder, die eine traumatische Erfahrung machen mussten, z. B. durch das eigene Erfahren und Miterleben von Gewalt und Missbrauch, Flucht, Tod oder Konfrontationen mit alters unangemessenen Inhalten in digitalen Medien. Diese Zahlen zeigen: Das Thema Trauma ist kein fernes Problem, es kann frühpädagogischen Fachkräften in ihrem Kita-Alltag begegnen.
Das Praxisbuch bietet Basiswissen rund um Traumata bei Kindern, z. B.: Was ist ein Trauma, welche Folgen kann es haben, wie lässt es sich erkennen, was tue ich bei einem Verdacht, wie sollte ich mich verhalten?
Als praktisch ausgerichteter Teil folgt eine breite Palette an Informationen und Angeboten, wie Kinder (trauma-)sensibel begleitet werden können, u. a. Fallbeispiele, Gesprächshinweise sowie zahlreiche Spiele und Übungen, die der Stärkung und der Überwindung von Traumafolgen dienen wie ein Angstfresserchen malen oder Stoppsagen lernen. Alle Aktivitäten fördern auch Kinder, die keinen traumatischen Erfahrungen ausgesetzt waren.

Udo Baer
Traumatisierte Kinder sensibel begleiten  Basiswissen und Praxisideen

Beltz Verlag, 114 Seiten, 18,95 Euro, ISBN:978-3-407-72766-4   Bestellung hier

 

 

 

 

Die Sehnsucht nach Kontrolle

Eine traumatische Erfahrung beinhaltet, dass Menschen sich ausgeliefert fühlen und ausgeliefert sind. Das ruft Gefühle der Hilflosigkeit hervor, die lange anhalten können oder immer wieder auftreten.

Auf Dauer werden viele Menschen mit solchen Erfahrungen „allergisch“ gegen Situationen, in denen sie hilflos sind oder sie andere Menschen als hilflos erleben. Da kann der geliebte Partner oder die Partnerin an einer Krankheit leiden, gegen die „die Medizin“ nichts tun kann, da ist das eigene Kind der Willkür einer Lehrerin oder eines Mitschülers ausgeliefert, da wird man Zeuge eines Unfalls, da wird man plötzlich entlassen und kann nichts dagegen tun … In vielen Lebenssituationen erfahren Menschen Hilflosigkeit und fast immer schwingt dann die traumatische Erfahrung existenzieller Bedrohung und existenziellen Ausgeliefertseins mit. Hilflosigkeit ist Trigger und Flashback zugleich.

Das ist wichtig zu wissen, um sich und andere zu verstehen.

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Trauma und Träume

Ich halte nichts davon, dass Gegenständen und Handlungen in Träumen bestimmte Bedeutungen zugewiesen werden. Jeder Traum ist oft verdeckter Ausdruck individuellen Erlebens, meist des unbewussten Erlebens. Also muss die Bedeutung jedes Traums individuell entschlüsselt werden.[1] Das gilt auch für das Trauma-Erleben, das sich möglicherweise in Träumen ausdrückt.

Doch zwei Hinweise möchte ich Ihnen geben, zwei Themen, die in Träumen traumatisierter Menschen wiederholt vorkommen.

Das erste Thema ist der Abgrund. Viele Menschen, die traumatischen Schrecken erfahren mussten, fühlen sich „aus der Welt gefallen“ oder gestoßen. Sie träumen, dass sie am Rande eines Abgrunds stehen oder in einen Abgrund stürzen. Ob sich der Abgrund zwischen zwei Hochhäusern auftut oder aus einer Schlucht in der Natur besteht, ist meist nicht wesentlich.

Das zweite Thema besteht darin, dass Menschen einen Zug nicht erreichen oder ein Auto, einen Bus … Manche kommen zu spät, andere werden gehindert und aufgehalten, bei anderen fährt der Zug in die falsche Richtung oder fällt aus. Sie erreichen ihn nicht. Mit dem Zug oder anderen Fahrzeug wollen die Träumenden meist zu einer Person, die sie lieben oder geliebt haben, zu einer Person ihres Vertrauens. Nach einem traumatisierenden Ereignis bekommen die meisten Menschen keine oder zu wenig Unterstützung, können keine Hilfe erreichen. So, wie sie den Zug nicht erreichen …

Beide Themen können auch anderen Quellen des Erlebens als einer traumatischen Erfahrung entspringen. Doch bei diesen Träumen scheint es nach meinen Erfahrungen lohnenswert zu sein, der Spur eines möglichen Traumas nachzugehen.

Diesen Hinweis will ich Ihnen geben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

[1] Hinweis auf das neue AKL-Journal, Heft über Träume …

Zwei Biografien

Wir Menschen haben alle ein biografisches Gedächtnis. Wir ordnen unsere Lebensereignisse in unser biografisches Selbstbild ein und gewichten sie chronologisch und nach Bedeutung. Wenn Personen traumatisierende Gewalt erfahren, tritt diese Fähigkeit des Gehirns in den Hintergrund oder funktioniert nicht mehr. Das Traumagedächtnis drängt immer wieder in den Vordergrund und führt zum Kämpfen, Fliehen oder Erstarren. Man kann sagen, dass es im Erleben vieler betroffener Menschen in der Folge zwei Biografien gibt: die „normale“ Biografie und daneben die „Traumabiografie“. Um damit besser umgehen zu können, ist es wichtig, darum zu wissen und die Tatsache der beiden Biografien anzuerkennen.

Ein neues Buch von Gabriele Frick-Baer: Kreative Traumatherapie – Trauma, die „Zeit danach“ und das Aufrichten in Würde

Gabriele Frick-Baer,

Kreative Traumatherapie – Trauma, die „Zeit danach“ und das Aufrichten in Würde, Kreative Leibtherapie, Band 10

Wer als Therapeut*in tätig ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe der therapeutischen Praxis den offenen oder verborgenen Wunden traumatisierter Menschen begegnen. Alle, die ihre Kompetenz durch traumatherapeutisches Wissen und kreativ-traumatherapeutische Anregungen erweitern wollen, finden das hier nun in dem neuen Lehr- und Praxisbuch.

Die Auswertung berührender Interviews, die anhand von Zitaten den Frauen, die als Kinder und Jugendliche sexuelle Gewalt erlebt haben, eine Stimme geben, sind ein Kerninhalt dieses Lehr- und Praxisbuches. Die „Zeit danach“, die unmittelbare Zeit nach dem Traumaereignis, in der der Schrecken durch das Alleinsein und Im-Stich-gelassen-Sein mit den Folgen für die Lebenszeit danach in den Leib „eingeschrieben“ bleibt, erfährt damit die Würdigung, die sie verdient.
Therapie i s t die Zeit danach. Wir Therapeut*innen s i n d die Zeit danach, sind Teil der Lebenszeit danach und haben damit unseren bedeutsamen Anteil am Heilungsprozess. Beziehungsverletzung braucht Beziehungsheilung.
W i e wir dazu entscheidend beitragen können, auch als Berater*innen, Pädagog*innen, Begleiter*innen von traumatisierten Menschen – Hinweise dazu, zur Haltung und zum Einbezug kreativer Medien, sind ein anderer Kerninhalt dieses Buches.
„Fast alles, was ich über Traumatherapie weiß, habe ich von meiner Frau und Kollegin Gabriele Frick-Baer gelernt.“ Udo Baer

Kreative Leibtherapie Band 10
Semnos Verlag, Berlin, 2023
416 Seiten, Broschiert
ISBN: 978-3-934933-60-6
Preis: 29,00 Euro
BESTELLUNG: HIER