Die Zeit davor

Ich begegne oft Menschen, die in einem bestimmten Aspekt des Trauma-Erlebens feststecken. Ich möchte in den nächsten drei Blog-Texten verschiedene Blickwinkel oder Methoden vorstellen, die diesem Feststecken entgegenwirken und die Erstarrung lösen können.

Der erste Hinweis betrifft die Zeit davor, die Zeit vor dem traumatischen Ereignis. Diese Zeit wird oft überschattet von dem, was durch das Ereignis hervorgerufen wurde. Die Zeit davor verschwindet hinter dem Schrecken des Traumas und dessen Folgen.

Es kann hilfreich sein, sich explizit mit der Zeit davor zu beschäftigen. Stellen Sie sich Fragen, wie zum Beispiel:

Wie ging es mir in der Zeit davor?

Was hat mir gutgetan?

An welche positiven Erfahrungen erinnere ich mich?

Wer hat mich unterstützt?

Worüber habe ich gelacht?

Mit wem war ich gern zusammen?

Welche Musik habe ich gehört?

Was habe ich gern gegessen?

Was habe ich gelesen? …

Schreiben Sie sich die Antworten auf die entsprechenden Fragen auf oder malen Sie Szenen, die Ihnen eingefallen sind oder skizzieren Sie einfach nur die Atmosphäre, die in Ihnen entsteht, wenn Sie sich mit diesen Fragen zu der Zeit davor beschäftigen.

Die Erinnerungen an die Zeit davor können und sollen nicht die traumatischen Erfahrungen überdecken oder entfernen. Aber sie können ein Gegengewicht dagegen bilden, dass sich der traumatisierende Schrecken festzurrt und so übermächtig wird, dass er das Erleben der betroffenen Menschen beeinträchtigt.

 

Die Sehnsucht nach Kontrolle

Eine traumatische Erfahrung beinhaltet, dass Menschen sich ausgeliefert fühlen und ausgeliefert sind. Das ruft Gefühle der Hilflosigkeit hervor, die lange anhalten können oder immer wieder auftreten.

Auf Dauer werden viele Menschen mit solchen Erfahrungen „allergisch“ gegen Situationen, in denen sie hilflos sind oder sie andere Menschen als hilflos erleben. Da kann der geliebte Partner oder die Partnerin an einer Krankheit leiden, gegen die „die Medizin“ nichts tun kann, da ist das eigene Kind der Willkür einer Lehrerin oder eines Mitschülers ausgeliefert, da wird man Zeuge eines Unfalls, da wird man plötzlich entlassen und kann nichts dagegen tun … In vielen Lebenssituationen erfahren Menschen Hilflosigkeit und fast immer schwingt dann die traumatische Erfahrung existenzieller Bedrohung und existenziellen Ausgeliefertseins mit. Hilflosigkeit ist Trigger und Flashback zugleich.

Das ist wichtig zu wissen, um sich und andere zu verstehen.

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Zwei Biografien

Wir Menschen haben alle ein biografisches Gedächtnis. Wir ordnen unsere Lebensereignisse in unser biografisches Selbstbild ein und gewichten sie chronologisch und nach Bedeutung. Wenn Personen traumatisierende Gewalt erfahren, tritt diese Fähigkeit des Gehirns in den Hintergrund oder funktioniert nicht mehr. Das Traumagedächtnis drängt immer wieder in den Vordergrund und führt zum Kämpfen, Fliehen oder Erstarren. Man kann sagen, dass es im Erleben vieler betroffener Menschen in der Folge zwei Biografien gibt: die „normale“ Biografie und daneben die „Traumabiografie“. Um damit besser umgehen zu können, ist es wichtig, darum zu wissen und die Tatsache der beiden Biografien anzuerkennen.

Ein neues Buch von Gabriele Frick-Baer: Kreative Traumatherapie – Trauma, die „Zeit danach“ und das Aufrichten in Würde

Gabriele Frick-Baer,

Kreative Traumatherapie – Trauma, die „Zeit danach“ und das Aufrichten in Würde, Kreative Leibtherapie, Band 10

Wer als Therapeut*in tätig ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe der therapeutischen Praxis den offenen oder verborgenen Wunden traumatisierter Menschen begegnen. Alle, die ihre Kompetenz durch traumatherapeutisches Wissen und kreativ-traumatherapeutische Anregungen erweitern wollen, finden das hier nun in dem neuen Lehr- und Praxisbuch.

Die Auswertung berührender Interviews, die anhand von Zitaten den Frauen, die als Kinder und Jugendliche sexuelle Gewalt erlebt haben, eine Stimme geben, sind ein Kerninhalt dieses Lehr- und Praxisbuches. Die „Zeit danach“, die unmittelbare Zeit nach dem Traumaereignis, in der der Schrecken durch das Alleinsein und Im-Stich-gelassen-Sein mit den Folgen für die Lebenszeit danach in den Leib „eingeschrieben“ bleibt, erfährt damit die Würdigung, die sie verdient.
Therapie i s t die Zeit danach. Wir Therapeut*innen s i n d die Zeit danach, sind Teil der Lebenszeit danach und haben damit unseren bedeutsamen Anteil am Heilungsprozess. Beziehungsverletzung braucht Beziehungsheilung.
W i e wir dazu entscheidend beitragen können, auch als Berater*innen, Pädagog*innen, Begleiter*innen von traumatisierten Menschen – Hinweise dazu, zur Haltung und zum Einbezug kreativer Medien, sind ein anderer Kerninhalt dieses Buches.
„Fast alles, was ich über Traumatherapie weiß, habe ich von meiner Frau und Kollegin Gabriele Frick-Baer gelernt.“ Udo Baer

Kreative Leibtherapie Band 10
Semnos Verlag, Berlin, 2023
416 Seiten, Broschiert
ISBN: 978-3-934933-60-6
Preis: 29,00 Euro
BESTELLUNG: HIER

 

„Gehirnverletzung“

In einem Vortrag der Tagung des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung am 7.11.2023 gab Prof. Dr. Jürgen Eilert einen Hinweis, den ich gerne weitergeben möchte. Er nannte sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt, eine „Körperverletzung, eine Gehirnverletzung“ und wies darauf hin, dass die Gewalt Veränderungen in Gehirnstrukturen und -abläufen nach sich zieht. Diese bestehen darin, dass die Amygdala immer wieder das „Kommando“ übernimmt, wenn traumaähnliche Situationen oder Sinneseindrücke den betroffenen Menschen begegnen und die Einordnungen und kognitiven Regulierungen im Gehirn geschwächt werden oder gar nicht funktionieren.

Also kurz gesagt: Wenn ein Täter oder eine Täterin jemandem den Arm bricht, wird diese in den meisten Fällen wieder verheilen. Wenn ein Mensch traumatisierende sexuelle Gewalt erfährt, können Folgen im Gehirn lebenslang wirksam bleiben. Trotzdem kann und muss es Hilfe und Heilung geben. Doch die langfristige Wirkung sollte der Öffentlichkeit und Justiz bewusst sein.

Traumatisierte Heimkinder im Alter – einige Erfahrungen

1     Am Ende einer Veranstaltung wurde die Frage gestellt: Wie kann ich vertrauensvoll im Alter in eine evangelische Einrichtung gehen, wenn ich als Kind in einem evangelischen Heim traumatisierende Gewalt erfahren habe?
Die Antwort nach meinen Erfahrungen lautet: Gar nicht.
Dieses Vertrauen ist nicht wiederzugewinnen. Die einzige Ausnahme, die ich kenne, existiert dann, wenn es eine vertrauensvolle persönliche Verbindung zur Leitung einer Einrichtung der Altenhilfe gibt. Aber das ist sehr, sehr selten.

2    Viele betroffene ehemalige Heimkinder werden durch die Einrichtung „Heim“ getriggert, unabhängig von der Trägerschaft. Der Geruch des Reinigungsmittels, ein langer Flur, feste Essenszeiten, Schritte im Flur … all das und viel mehr kann die Schrecken der Vergangenheit mobilisieren. Deswegen braucht es Alternativen zu Heimen, Wohngemeinschaften, wie Paula sie in Köln plant, ambulante Betreuung oder wie in dem Haus in Berlin-Neukölln: drei der 40 Wohnungen sind an einen Verein vermietet, der sie an traumatisierte Menschen weitervermietet und mit ihnen Kontakt hält. Letzteres wäre eine Option für diejenigen, für die selbst eine Wohngemeinschaft nicht aushaltbar wäre.

3    Es gibt betroffene Menschen, die nicht in ein wie auch immer geartetes Heim gehen wollen und können, und es gibt zahlreiche traumatisierte ehemalige Heimkinder in den bestehenden Heimen. Deswegen müssen den Mitarbeiter*innen dieser Einrichtungen Kenntnisse und Kompetenzen über Traumata und deren Folgen und den Umgang damit vermittelt werden. Ein Drittel bis zwei Drittel, je nach Alterskohorten, der Menschen in Einrichtungen der Altenhilfe sind traumatisiert. Heimkinder leiden unter den Besonderheiten ihrer traumatisierenden Erfahrungen UND sie stehen im Zusammenhang der zahlreichen Traumafolgen, die sich in der Altenhilfe zeigen und Würdigung brauchen.

4    Jeder Mensch, der traumatisierenden Schrecken erleben musste, wurde entwürdigt. Traumata sind Beziehungsverletzungen. Beziehungsverletzungen brauchen Beziehungsheilung, neue Beziehungserfahrungen mit Menschen, die würdigen. Dazu gehört, dass anerkannt wird, was Schlimmes diesen Menschen zugefügt wurde. Von Institutionen und Personen. Das sollte selbstverständlich sein. Dazu gehört auch tätige Reue. Institutionen und Personen müssen tätig werden, um den Opfern zu helfen, und sie müssen dafür aktiv eintreten, dass nie wieder solche Traumatisierungen geschehen.

 

Udo Baer

Was ist und wie hilft Traumapädagogik?

Die Bezeichnung „Traumapädagogik“ ist ungenau. Weder werden Traumata pädagogisch vermittelt, noch geht es nur um pädagogische Arbeit mit traumatisierten Menschen (dann müsste es („Traumatisierten-Pädagogik“ heißen). Gemeint ist die traumasensible, pädagogische und sozialpädagogische Arbeit mit traumatisierten Menschen. Der Begriff Traumapädagogik hat sich jedoch eingebürgert.

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Wie finde ich eine*n Therapeut*in?

Wer eine Therapeutin oder einen Therapeuten sucht, soll sich auf drei Quellen stützen:

Der erste Schritt sollte darin bestehen, sich an die jeweilige Krankenkasse zu wenden, die Therapeut*innen-Listen zur Verfügung stellt. Als Zweites sollte man Freunde und Freundinnen und Bekannte fragen oder sich an früher gegebene Empfehlungen erinnern. Und drittens ist die Suche im Internet oft sehr vielversprechend. Dort finden sich eine Fülle von Informationen und Institutionen, die spezielle Traumatherapie anbieten und Listen von entsprechenden Therapeuten/innen zur Verfügung stellen.

Wichtig ist, welches Verfahren Sie aussuchen. Viele Therapeuten*innen arbeiten mit einem Grundverfahren, von denen hier in den vorherigen Antworten auf die Fragen nur einige vorgestellt werden konnten. Informationen über andere finden Sie im Internet. Die erfahrenen Traumatherapeut*innen verwenden auch Elemente anderer therapeutischer Verfahren und suchen danach, was für die jeweilige Klienten oder Patient*innen sinnvoll und angemessen ist.

Unbedingt notwendig ist, dass Sie in Vorgesprächen mit der Therapeutin oder dem Therapeuten herausfinden, ob Sie zu dieser Person ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen können. Dazu ist persönlicher Kontakt notwendig, es reicht nicht das Internet. Ohne die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung kann keine Therapie erfolgreich sein. Deswegen nehmen Sie sich in dieser Hinsicht ernst. Falls eine Traumatherapie von der Krankenkasse bezahlt wird, werden die Kosten für solche vorbereitenden Stunden übernommen.

Was sind und wie helfen andere traumatherapeutische Ansätze?

Neben den bislang beschriebenen gibt es eine Fülle weiterer traumatherapeutische Ansätze beziehungsweise Methoden. Einige seien hier noch kurz vorgestellt:

– Somatic Experiencing nach Peter Levine

In der Somatic Experience (SE) stehen die körperlichen Prozesse der Traumafolgen im Vordergrund. SE versucht den Alarmzustand und die Schockfolgen eines Traumas, die auch körperlich weiterbestehen können, zu reduzieren. Dies geschieht im Gespräch, in dem vor allem die Aufmerksamkeit der Patient*innen auf die Körperwahrnehmung gelenkt wird, und durch Körperübungen.

– Psychodynamische imaginative Traumatherapie nach Luise Reddemann

In der Psychodynamischen imaginativen Traumatherapie PITT wird vorrangig mit Imagination gearbeitet, um die Traumafolgen besser kontrollieren und reduzieren zu können. Durch Vorstellungen eines sicheren Ortes oder eines „Tresors“, in den belastende Erinnerungen „weggepackt“ werden sollen, soll die Stabilität gefördert werden. Darüber hinaus wird viel mit verschiedenen Anteilen des „Ichs“ gearbeitet, zum Beispiel mit dem „Erwachsenen-Ich“ und dem „Inneren Kind“. In dieser Arbeit werden negative Prägungen und Traumatisierungen in der Kindheit deutlich, die durch verschiedene Techniken überwunden werden sollen. Dazu gehören Techniken, die auf Veränderungen des Verhaltens abzielen, aber auch kognitive Techniken und Techniken, wie zum Beispiel Imagination, Rollenspiele und empathische Konfrontationen, die das Bindungsverhalten und die Gefühlswelt verändern sollen.

– Systemische Verfahren

In systemischen Verfahren wird Wert darauf gelegt, die Auswirkungen traumatischer Erlebnisse auf das soziale Umfeld (System) und die Verbindungen innerhalb der Systeme zu legen. Durch Hausaufgaben werden kleinere Veränderungen erprobt und weiterentwickelt.

 

Was ist und wie hilft Gesprächstherapie?

Die Gesprächspsychotherapie, oft auch Klientenzentrierte Psychotherapie genannt, wurde von dem amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers in den Sechziger und Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt. In der Gesprächspsychotherapie wird vor allem Wert auf die Beziehung zwischen Therapeut*in und Patient*in beziehungsweise Klient*in gelegt. Den Menschen mit positiver Wertschätzung und Achtung zu begegnen, ist Leitfaden der Arbeit der Therapeut*innen. Sie bemühen sich darum, ohne Vorurteile die leidenden Personen in ihren Lebenszusammenhängen zu verstehen und den Menschen als konkrete Person, ohne sich als Experte oder Expertin hervorzuheben, zu begegnen und selbst erfahrbar zu werden. Ziel ist, die eigenen Wachstumskräfte der Klient*innen zu fördern, sodass sie ihre Probleme besser bewältigen und ihr Leiden verringern können.

Gesprächstherapie wird als eigene Methode für traumatisierte Menschen angeboten und ist gleichzeitig Bestandteil verschiedener therapeutischer Ansätze und Begegnungen. In den Gesprächen erfahren die Klient*in Wirksamkeit und können der erfahrenen Missachtung und Entwürdigung neue Erfahrungen der Würdigung und des Verständnisses entgegensetzen. Gleichzeitig entwickeln sie Verständnis für sich selbst und können Wege der Veränderung entwickeln.