Viele Opfer traumatisierender Gewalt sind darüber entsetzt, dass Täter*innen straflos davonkommen. Und wenn sie bestraft werden, wird diese Strafe meist als unangemessen empfunden, als zu gering im Vergleich zu dem Schaden und Leid, das den Opfern zugefügt wurde. Sie machen dann das Rechtssystem oder Vorurteile oder Parteilichkeit mit den Täter*innen dafür verantwortlich. Das kann alles der Fall sein. Viele dieser Vorwürfe sind berechtigt.
Doch nach meinen Erfahrungen müssen Opfer immer damit leben, dass nach ihren eigenen Gefühlen und Bewertungen die Täter*innen zu geringe oder gar keine Strafen erhalten. Ich bedaure das. Und doch ist es ein Teil der Lebenswelt und der Realität, an der Opfer wenig verändern können, auch wenn sie darüber rasende Wut empfinden oder andere Ausdrucksformen ihrer Ohnmacht leben. Die Gründe für diese Straflosigkeit liegen meines Erachtens an zweierlei Faktoren:
Erstens herrscht in den Gesellschaften dieser Welt seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden ein Machtgefälle zwischen Täter*innen und Opfern. Die Täter*innen haben die Macht und die Opfer sind ohnmächtig. Es hat sich manches in Richtung Opferhilfe und auch Bestrafung von Täter*innen verändert. Doch diese Veränderungsprozesse vollziehen sich nur langsam und es wird Generationen dauern, bis sich dieser Veränderungsprozess einigermaßen zufriedenstellend entwickelt haben wird.
Zweitens ist das, was den Opfern geschehen ist, so unfassbar, dass es dafür kaum oder nur wenig Maßstäbe „gerechter“ Strafen gibt oder vielleicht auch geben kann. Ein junger Mann, der als Kind halb totgeprügelt wurde, hat den starken Impuls, dass auch seine Eltern, die geprügelt haben, das gleiche erfahren wie er. Und gleichzeitig möchte er das nicht, weil er nicht so werden will wie die Täter*innen. Also hat er das Gefühl, dass die Eltern irgendwie immer wieder „davonkommen“, dass sie sich der Gerechtigkeit entziehen und er selbst mit seinem Leiden nicht genug, zumindest, was die Strafe betrifft, gewürdigt wird.
Insbesondere wenn Opfer nicht so werden wollen wie die Täter*innen, bleibt diese Kluft zwischen angemessener oder erwünschter oder ersehnter Strafe und dem, was real umgesetzt werden kann.
Diese Worte sollen weder trösten noch verharmlosen, dass Opfer zu wenig gehört werden und dass Täter*innen zu viel Macht in dieser Gesellschaft haben. Doch ich habe in vielen Gesprächen und in der Begleitung von Opfern traumatisierender Gewalt erfahren, dass dieser realistische Blick zumindest manchen helfen kann, nicht auch noch mit ihrer eigenen Hilflosigkeit und ihrer ohnmächtigen Wut zu hadern. Deswegen erzähle ich hier davon.
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