Wie hilft Parteilichkeit?

Viele Opfer von traumatisierten Gewalttaten sind oft so verstört, dass sie den Boden ihres Denkens, Fühlens und Handelns verlieren. Sie zweifeln daran, sich „richtig“ zu erinnern, und sie werden oft überwältigt von Schuldgefühlen. Diese Schuldgefühle ohne Schuld können lange anhalten und das Denken und Fühlen der betroffenen Menschen stark bestimmen.

Deswegen brauchen traumatisierte Menschen, insbesondere Opfer von Gewalt, Parteilichkeit. Parteilichkeit bedeutet, dass andere Menschen für sie Partei ergreifen, sich an ihre Seite stellen und ihnen spiegeln: „Du bist das Opfer, die anderen sind die Täter! Du bist nicht schuld!“ Das gibt den traumatisierten Menschen Sicherheit und Orientierung. Es wirkt wie ein Kompass bei der Bewältigung des Geschehenen.

Zur Parteilichkeit gehört auch, dass andere Menschen den Betroffenen deren Zweifel und Schuldgefühle erklären und sie dazu ermutigen, Verständnis für sich zu haben und nicht zu hart mit sich zu richten. Den Unterschied zwischen Schuldgefühlen mit und ohne Schuld zu benennen hilft. Genauso hilfreich ist es zu beschreiben, wie eine solche Ausnahmesituation existenzieller Bedrohung, wie sie ein traumatisches Ereignis ist, zu einem „Durcheinander im Kopf“, zu Zweifeln, zu Unsicherheiten und vielfältigen „seltsamen“ Gefühlen führen kann und oft auch führen muss. Bei diesem Erklären geht es nicht darum, generell Kenntnisse über traumatische Prozesse zu erwerben, es zielt vor allem darauf ab, dass die betroffenen Menschen Verständnis für sich selbst bekommen beziehungsweise es vertiefen. Parteiliche Rückmeldungen sind keine einmalige Angelegenheit, sie müssen wiederholt werden, mehrmals und immer wieder. Oftmals auch noch Monate oder Jahre nach dem traumatisierenden Ereignis.

Zur Parteilichkeit gehört auch, dass eine gesellschaftliche Parteilichkeit vorhanden ist. In den Medien, in der Politik und in anderen gesellschaftlichen Aussagen und Veröffentlichungen sollte klar zwischen Tätern und Opfern unterschieden werden und die Gesellschaft sollte sich für eine Unterstützung der Opfer aussprechen und entsprechend handeln, indem Täter und Täterinnen verurteilt werden. Das hilft der Gesellschaft und das hilft jedem einzelnen Opfer.

 

Warum Sie eine Leibgarde brauchen

Eine Leibgarde ist dafür da, Sie zu schützen. Sie steht eigentlich nur den Mächtigen zu. Aber auch wir Normalos brauchen sie manchmal. Zum Beispiel im Krankenhaus. Wenn ich dort behandelt werden, bin meist so voller Schmerzen und so geschwächt, dass ich mich nicht wehren kann gegen falsche Behandlungen oder Vernachlässigung. Meine Leibgarde besteht dann aus meiner Frau und meinen Kindern. Sie passen auf mich auf, weil ich das selber in dieser Situation nicht genügend kann.

Eine Leibgarde brauchen in manchen Situationen auch traumatisierte Menschen. Unmittelbar nach dem Ereignis oder wenn das Traumaerleben durch Trigger wieder lebendig wird, sind sie vielleicht verwirrt und etwas desorganisiert. Ihre Energie wird dann dafür gebraucht, das Traumaerleben zu bewältigen, und reicht nicht für manch anderes. Das ist alles eine normale Reaktion auf unnormale Erfahrungen. Dann brauchen Sie eine Leibgarde. Menschen die Sie beschützen und unterstützen. Wer könnte das sein? Das sollte vorher überlegt werden. Diese Menschen sollten gefragt werden: „Kann ich dich anrufen, wenn ich dich brauche?“

Es lohnt sich.

Was ist mit „Täterintrojekten“ gemeint?

Ein Introjekt bedeutet wörtlich übersetzt etwas, das „hineingeworfen“ wurde. Im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen werden damit Haltungen und Verhaltensweisen, Werte und Gefühle beschrieben, die ein Täter oder eine Täterin in die Opfern hineingeworfen, in ihnen zurück gelassen hat und die sie von den Tätern als Eigenes übernommen haben. Damit wird erklärt, dass manche Opfer aggressiv werden (was mit den Aggressionen der Täter gleichgesetzt wird) oder sich selbst immer wieder in gefährliche Situationen bringen (was als Wiederholung des Tathergangs erklärt wird). Die meisten Opfer traumatisierender Gewalt lehnen diesen Begriff ab. Sie wehren sich dagegen, von Tätern etwas übernommen zu haben. Sie sind darüber empört, dass sie sich wie die Täter oder Täterin verhalten. Diese Ablehnung des Begriffs Täterintrojekt ist unterstützenswert.

Alles, was mit sogenannten Täterintrojekten erklärt wird, kann auch durch andere Aspekte des Trauma-Erlebens nachvollziehbar werden. Zu den Schuldgefühlen, siehe die Antwort auf vorherige Fragen. Auch wenn sich manche Opfer in ähnliche Situationen wie das traumatisierende Ereignis begeben, so spricht dies eher dafür, dass durch die Gewalterfahrung die Angst so groß wurde, dass sie nicht mehr spürbar ist und als Leitlinie vorsichtigen Verhaltens genutzt werden kann. Aggressives Verhalten von Opfern kann als Notwehr vor möglichen Wiederholungen der Taterfahrungen verstanden werden, auch als vorsorgliches Handeln und Fühlen, ausgelöst durch Trigger. Eine solche Erklärung fußt gerade auf den Erfahrungen als Opfer und beinhaltet keine Übernahme von Täterverhalten.

 

Kann eine Krankheit ein Trauma verursachen?

Ja. Das kann sie. Nicht jede Krankheit, aber Krankheiten, die existenziell bedrohlich sind, können die Menschen erschüttern und nachhaltige Wirkungen hervorrufen. Manche Erkrankungen konfrontieren Menschen mit der Frage von Leben oder Sterben und überfordern sie in der konkreten, oft sehr schwächenden Situation. Oft geschieht das plötzlich und unerwartet.

Traumafolgen können dann ähnliche sein wie die nach Traumata, die durch andere Ereignisse verursacht wurden. Viele fühlen sich ausgeliefert und aus dem bisherigen Leben geworfen. Es treten oft Trigger auf, Szenen aus dem Krankenhaus blitzen manchmal Jahre später wieder auf. Wenn im Fernsehtatort eine Intensivstation gezeigt wird, beginnt das Herz zu rasen. Verunsicherung und Ängstlichkeit können zum Wegbegleiter werden. Solche und andere Folgen können die Menschen noch lange Zeit begleiten. Wenn die körperlichen Wunden verheilt sind, können die seelischen noch schmerzen.

Wie bei anderen Traumata kommt auch hier darauf an, dass die traumatisierten Erkrankten ihren Schmerz teilen können, dass sie nicht allein bleiben und Unterstützung erfahren.

Verzweiflung

Niemand ist gerne verzweifelt. Verzweiflung ist ein Gefühl, bei dem man an allem zweifelt, vor allen Dingen an der Rettung. Verzweiflung ist begleitet von Angst und Panik, von Hilflosigkeit und dem Gefühl, allein zu sein und keinen Ausweg zu haben. Viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen vor allem mit sexueller Gewalt waren verzweifelt. Sie mussten diese Erfahrung der Ausweglosigkeit machen.

Oft holt diese und auch andere Menschen die Verzweiflung wieder ein. Doch niemand möchte gerne verzweifelt sein. Also versuchen wir alle, uns einen Ring um die Verzweiflung zu legen und die Verzweiflung einzukapseln, damit wir sie nicht spüren müssen. Dieser Ring kann aus unterschiedlichen Gefühlen und Verhaltensweisen bestehen. Manche Menschen werden aggressiv und wehren alles, was ihnen zu nah kommt, ab. Andere erstarren und bekommen Schuldgefühle oder beschuldigen andere Menschen, ohne genauer zu wissen, wofür und weshalb.

Vielleicht kennen Sie das eine oder andere Element Ihres individuellen Schutzschildes vor Verzweiflung. Wenn ja, dann versuchen Sie es wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Das Schutzschild vor Verzweiflung ernst zu nehmen, bedeutet, das zu suchen, was gegen die Verzweiflung hilft. Das schon möglichst früh und im Vorfeld, bevor sie ihre Macht entfaltet.

Was hilft? Halt zu bekommen, nicht allein zu sein, sich unterstützen zu lassen, gerettet zu werden. Welche Menschen gibt es, denen man zutraut, dass man von ihnen gestützt und unterstützt wird, wenn man verzweifelt ist? Diese Menschen sind kostbar. Diese Frage sollte jeder für sich beantworten, um im Notfall oder möglichst vor dem Notfall der Verzweiflung sich an solche Menschen zu wenden und bei ihnen Halt zu suchen.

Der innere Kern

Jeder Mensch hat einen inneren Kern. Man findet ihn auf keinem Röntgenbild oder Anatomieatlas – aber er ist zu spüren. Der innere Kern ist der Ort, von dem aus Menschen Entscheidungen treffen, der ihr Wesen und ihr Wesentliches umfasst, der all das enthält, was ihnen kostbar und heilig ist.

Um diesen inneren Kern herum gibt es Schutzschichten. Eine Schicht der Intimität, der Grenzen der Intimität, eine Schicht des persönlichen Raums und deren Grenzen und anderes mehr. Diese Schichten werden durch sexuelle Gewalt und andere Gewalterfahrungen durchbrochen und geschädigt. Oft ist der innere Kern dann entblößt, verletzt oder zumindest irritiert. Menschen, die traumatische Erfahrungen hatten, brauchen Unterstützung, um ihren inneren Kern zu stärken.

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Die Wunde zeigen?

Das Wort „Trauma“ bedeutet Wunde. Traumatische Wunden sind nachhaltig und tief. Sie wirken lange nach und schaffen viel Leid. Körperliche Wunden, bei denen die Muskulatur oder Haut verletzt wird, brauchen einen Verband oder sogar einen Gips und andere Schutzhüllen. Das ist bei seelischen Wunden wie den Traumata nach sexueller Gewalt und anderen Entwürdigungen oft ähnlich. Weiter lesen

Unterlassene Hilfeleistung und Mittäterschaft

Mich macht immer wieder fassungslos, dass und wie lange Menschen zusehen, dass ihre Kinder vom anderen Elternteil Gewalt erfahren, oft auch sexuelle Gewalt. Oft sind es Mütter, die meist den Töchtern nicht helfen. Ihr Schweigen und ihr Zulassen von Gewalttaten entspringt oft eigner Not. Oft drohen die Täter. Weiter lesen

Fragen an sich selbst – oder andere?

Viele Menschen wälzen Fragen in ihrem Kopf herum: Wie sehen mich die anderen? Bin ich eine gute Mutter? Werde ich von meinen Kollegen geschätzt? Wird meine Nachbarin die Einladung annehmen, mich zu besuchen? …

Insbesondere viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen (aber nicht nur diese) erzählen, dass in ihnen solche Fragen im Kopf herumkreisen. Sie zermartern sich das Gehirn, um Antworten zu finden. Doch oft vergeblich – ja meistens sogar. Denn es gibt Fragen an uns selbst, die wir beantworten können, aber viele können wir gar nicht beantworten. Wie man sich als Mutter bewertet, da muss man die Kinder fragen, nicht sich selbst. Ob die Nachbarin eine Einladung annimmt, sollte man die Nachbarin fragen. Man selbst kann diese Frage nicht beantworten.

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Beziehungsverletzungen brauchen Beziehungsheilung – aber von wem?

Traumatische Erfahrungen sind Beziehungsverletzungen. Traumata werden durch andere Menschen zugefügt. Selbst bei traumatischen Erfahrungen durch Naturkatastrophen ist es entscheidend, wie die anderen Menschen darauf reagieren, ob die Betroffenen im Stich gelassen oder unterstützt und getröstet werden.

Solche Beziehungsverletzungen brauchen neue Beziehungserfahrungen, die heilen können. Doch viele traumatisierte Menschen sind gerade darin, neue Beziehungserfahrungen zu wagen, gehemmt. Das ist nachvollziehbar und verständlich, weil sie gerade in den Beziehungen so sehr verletzt worden sind. Und doch brauchen sie neue Erfahrungen mit anderen Menschen.

Dazu möchte ich zwei Hinweise geben:

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