„Ich bin so dünnhäutig“

 

Viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen erleben sich selbst als „dünnhäutig“. Wenn sie etwas verletzt, reagieren sie oft als „überempfindlich“ – in ihren Augen und in denen anderer. Wenn sie Zeitung lesen oder Nachrichten im Fernsehen oder Internet anschauen, empören sie sich und spüren intensives Mitgefühl bei den täglichen Katastrophenbildern.

All dies kann eine Folge traumatischer Erfahrungen sein. Wer traumatisierende Gewalt erfahren hat, musste erleben, dass seine Grenzen verletzt, seine Schutzschicht durchstoßen wurde. Besonders wenn dies mehrmals passiert und durch andere Verletzungen ergänzt wird, führt dies dazu, dass die betroffenen Menschen in besonderer Weise anderes Leid als ihres spüren und ihre Schutzhaut „dünner“ wird.

Diesen Zusammenhang zu erkennen, ist für viele hilfreich. Die „Dünnhäutigkeit“ kann eine Traumafolge sein. Also gilt es zu würdigen, was ist. Dazu gehört anzuerkennen, dass die Dünnhäutigkeit auch eine Kompetenz ist. Insbesondere in helfenden Berufen, aber auch im Alltag sind solche Menschen in besonderem Maße in der Lage, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und mitzufühlen. So positiv dies ist, so nervend kann die Dünnhäutigkeit auch manchmal sein. Kurzfristige Hilfen kenne ich nicht. Doch mittelfristig kann man einiges tun. Die Zusammenhänge zu erkennen, ist der erste Schritt. Mir und anderen hilft auch, mich manchen Menschen nicht mehr auszusetzen. Ich kann weitgehend wählen, mit wem ich zusammen bin. Ich schaue auch am Abend, zumindest vor dem Schlafen, keine Nachrichten mehr. Und wenn ich Filme schaue, achte ich darauf, dass sie keine oder möglichst schwache Gewaltszenen enthalten. Also ich versuche mich zu schützen.

Ergänzend hilft alles, was den Eigen-Sinn stärkt. Zu wählen, was man wie isst, mit wem man zusammen ist, was man sich wünscht und die eigenen Impulse möglichst wahrzunehmen und zu achten, ist hilfreich. Wie das am besten gelingt, wird jeder Mensch selbst herausfinden.

Mutter und Tochter

Ein 13jähriges Mädchen beginnt, sich zu ritzen. Die Mutter war mit 14 Jahren vergewaltigt worden, hat darüber aber nie gesprochen. Kann das zusammenhängen?

Meine Vermutung ist, dass es Zusammenhänge geben kann, aber nicht muss. Einen Hinweis gibt uns die Erfahrung, dass Mädchen, die anfangen, sich selbst zu verletzen, zu ritzen, darüber zumeist Spannung abbauen. Sie wissen keinen anderen Weg, als über die Schmerzen ihre innere Anspannung zu verringern. Das berichten sie wiederholt.

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Von der Härte beim Kämpfen

Thea F. hatte in ihrer Jugend Gewalt erfahren. Mehrmals. Sie hat sich geschworen, sich das nie mehr bieten zu lassen. Sie kämpft. Sie setzt sich für Opfer ein. Sie kämpft für die Frauenrechte und lässt sich „nichts mehr gefallen“.

Mit dieser Haltung und diesem Verhalten ist sie zufrieden. Doch unter einem Aspekt leidet sie. Manchmal kämpft sie gegen Kolleginnen, gegen Freundinnen, gegen andere Menschen und merkt danach, dass gar nicht so viel Kampf notwendig gewesen wäre. Oft kämpft sie vorsorglich mit großer Intensität. Manchmal zurecht, manchmal vergeudet sie ihre Energie, ja manchmal verletzt sie andere Menschen, was sie gar nicht möchte. Und sie merkt, dass sie sich oft verausgabt und zu hart und zu streng mit sich selbst ist.

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Die Abstimmung in Irland, Abtreibung und die Würde Teil1

Dieser Artikel ist Teil 1 von 2 der Artikel-Serie Die Abstimmung in Irland, Abtreibung und die Würde

 

 

 

Von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer

Wir sind sehr erfreut über das Abstimmungsergebnis der Iren, dass sie sich in ihrer Mehrheit dafür ausgesprochen haben, den Frauen das Recht auf eigene Entscheidungen für oder gegen eine Schwangerschaft zu geben, sie zu respektieren und zu legalisieren. Wir sind erleichtert, dass die Not der Frauen, in die sie die Illegalität eines Abbruchs getrieben hat, laut geworden und gehört worden ist. Wir hoffen, dass der Scheinheiligkeit ein Ende bereitet wird, das ungeborene Leben zu schützen und das geborene Leben der Kinder der „gefallenen Frauen“ grausam in foltergleicher Heimerziehung und Morden mit Füßen zu treten. Wir freuen uns, dass Solidarität und Mut und ernsthafte Auseinandersetzung mit Themen der Menschenwürde zu gesellschaftlichen und juristischen Konsequenzen geführt hat.

Warum nehmen wir dieses Ereignis als Anlass für einen Beitrag? Warum sind wir so positiv erschüttert – berührt und erleichtert? Wir haben miteinander darüber gesprochen und gemerkt, dass uns dabei viele Facetten beschäftigen und berühren, denen wir hier, wenn auch in aller Kürze und damit Verkürzung, einen Raum geben wollen.

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Verschobene Trauer

Ein Mann Anfang vierzig hatte vor Jahren einen schweren Unfall überlebt. Ein Teil seiner Lebensfähigkeit war danach erstarrt. Er musste nach dem Unfall seinen Beruf aufgeben und durchlebte eine längere Leidenszeit in der Rekonvaleszenz und in der Reha. Darüber zu trauern, war er nicht in der Lage. Die Trauer war „abgestorben“, wie er meinte. Am Anfang war dies überlagert durch seine Erleichterung, überlebt zu haben und sich halbwegs gesund wieder bewegen zu können. Doch dann merkte er, dass etwas an ihm nagte und ihn beunruhigte. Dass dieses „etwas“ mit seinem Trauma zu tun haben könnte, auf die Idee kam er nicht. Aber er suchte Hilfe.

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Der Mythos: „Nie mehr abhängig!“

„Du darfst dich nicht abhängig machen!“ – das höre ich von zwei Seiten. Einmal von manchen Psycholog/innen, Therapeut/innen und anderen Ratgebern. Sie hängen dem Mythos nach, dass Menschen nach Unabhängigkeit streben sollen und dass Abhängigkeit Ausdruck der Symbiose ist oder in die Symbiose führt. Theoretischer Hintergrund sind Behauptungen von Fromm, Mahler, Spitz und anderen Psychoanalytikern, dass wir Menschen im Mutterleib und in bestimmten Phasen der Kindheit eine „symbiotische Phase“ leben würden, die es unbedingt zu überwinden gelte, um ein glücklicher Erwachsener zu werden.

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Symbiose? – Nein: Liebe!

Wie oft höre ich, dass Menschen vorgeworfen wird, sie seine „symbiotisch“ oder „zu symbiotisch“. Das hört der Ehemann, der sich so sehr um seine demenzkranke Frau kümmert, dass kaum noch Zeit für seine Freunde bleibt. Das hört die Mutter, deren erwachsene Tochter psychisch erkrankt ist und die vor Hilflosigkeit und Sorge kaum noch schlafen kann. Das hört das frisch verliebte junge Mädchen, das sich kaum noch vom Liebsten trennen kann.

Wenn hier das Wort „Symbiose“ verwendet wird, dann klingt immer der Vorwurf mit: Du bist zu nah, zu eng, du passt zu wenig auf dich auf, du kümmerst du zu viel, du hast dich verloren. In diesem Psycho-Mainstream wird „Symbiose“ mit Selbstaufgabe gleichgesetzt, zumindest damit, dass die Grenzen zwischen zwei Personen verschwinden. Denn auf den Symbiose-Vorwurf folgt meist die Aufforderung: Du muss dich mehr abgrenzen!

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