Existenzielle Einsamkeit

„ich fühle mich einsam, egal ob Menschen da sind oder nicht,“ sagte eine Frau zu mir. Einsam kann man sich fühlen, auch wenn man nicht allein ist, in der Familie oder auf der Geburtstagsparty. Einsamkeit ist ein Gefühl, Alleinsein ist ein sozialer Zustand. Beide sind nicht dasselbe.

Doch auch bei der Einsamkeit existieren Abstufungen, ja unterschiedliche Qualitäten. Ein Mensch kann sich in einer konkreten Situation einsam fühlen oder dieses Gefühl kann längere Zeit andauern und zu einem Grundgefühl werden, das das Leben begleitet. Für die zitierte Frau war das Einsamkeitsgefühl sogar existenziell. Sie hatte als kleines Kind ein Trauma erlebt und war danach mit ihren Verlustgefühlen allein geblieben. Sie erzählte: „Ich habe gelernt, damit zu leben. Was Beziehungen betrifft, war ich sehr misstrauisch, hab mich nie zugehörig gefühlt, hatte immer Angst, wieder verlassen zu werden. Auch wenn ich mit jemandem zusammen war und vertraute, blieb doch immer ein Stück Einsamkeit in mir.“ Ich nenne dieses Gefühl „existenzielle Einsamkeit“.

Meist ist sie sehr früh entstanden und/oder durch starke traumatisierende Erschütterungen, v.a. durch den Verlust anderer Menschen oder den Verlust der persönlichen Selbstverständlichkeit und Unversehrtheit. Die Menschen wurden dadurch so auf sich zurückgeworfen, dass die Verbindungen zu anderen gekappt wurden wie die Seile eines Schiffes, dass vom Ufer losgerissen wird und allein aufs Meer treibt. Beschleunigt und vertieft wird dieser Prozess, wenn die Umgebung nicht halten und trösten kann, aus Ignoranz oder Überforderung.

Sich solcher Erfahrungen bewusst zu werden, ist ein erster Schritt. Wichtig ist, dass ein Mensch in diesem Prozess nicht allein ist, sondern Verständnis und Trost für seinen Schmerz erfährt. Dann kann es weiter gehen, dann können kleine Schritte gewagt werden, Brücken zu anderen zu bauen und durch Misstrauen und Ängste vor Verlassen-Werden hindurch Begegnungen zuzulassen. Letzten Endes heilen Erfahrungen der Liebe. Die Einsamkeit verschwindet nicht einfach, sie schmilzt. Langsam, aber stetig.

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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