Dürfen wir bedürftig sein?

Ich begleitete eine mehrmals traumatisierte Klientin dabei, ihrer Sehnsucht nach Nähe, Liebe, Partnerschaft, Freundschaft nachzugehen. Sie kam gut voran und wagte vieles. Doch immer wieder stockte es und es tauchten grundlegende Zweifel auf. Wir gingen diesen Zweifeln nach und stießen auf eine Frage, die sie oft beschäftigte. Sie formulierte sie so: „Darf ich bedürftig sein? Bestimmt nicht. Oft denke ich, ich bin viel zu bedürftig. Meine Freundin sagt das auch. Ich muss bescheidener sein. Ich muss mich mit dem zufriedengeben, was da ist und was ich habe. Wenn ich mich zu bedürftig fühle und dem nachgehe, wonach ich mich sehne, mache ich mich doch wieder von anderen abhängig. Und das ist gefährlich.“

Dürfen wir bedürftig sein? Ich sage eindeutig: „Ja!“ Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen andere. Wir brauchen Nähe, Liebe, Freundschaft und andere Verbindungen. Wenn wir denen nicht nachgehen, lassen wir einen Teil unserer Lebendigkeit ersterben. Für viele traumatisierte Menschen, so meine Erfahrung, ist es schwierig, ihre Bedürftigkeit zu akzeptieren. Sie haben oft die Erfahrung gemacht, dass Abhängigkeit von anderen Menschen gefährlich und bedrohlich ist. Sie mussten oft erleben, dass eine Situation, in der sie sich ausgeliefert fühlen, mit Grauen und Schrecken verbunden war. Deshalb tendieren sie dazu, sich gegen das Gefühl, ausgeliefert zu sein, schon in den Anfängen zu wehren. Und um sich damit zu arrangieren, sprechen sie sich sogar das Recht ab, Bedürfnisse zu haben und Bedürftig zu sein.

Doch was heißt es denn, bedürftig zu sein? Bedürftig zu sein, bedeutet nicht gleichzeitig, sich auszuliefern. Bedürftig zu sein heißt, sich nach Menschen zu sehnen, Wünsche zu haben nach Begegnung und Nähe und mehr. Entscheidend ist nicht, ob wir Menschen Bedürfnisse haben, sondern mit wem wir versuchen, diesen Bedürfnissen nachzukommen. Da gilt es, so gut es geht, auszuwählen, wem gegenüber wir unsere Bedürfnisse zeigen. Es bleibt immer ein Restrisiko, ein Wagnis, das wir eingehen, wenn wir uns anderen Menschen nähern. Dieses Wagnis einzugehen, lohnt sich.

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Ein Kommentar zu “Dürfen wir bedürftig sein?

  1. Vielen Dank Herr Baer für diesen wunderbaren Artikel. Ich bin zurzeit selbst in Therapie und lese viel zu dem Thema und bis jetzt haben alle Artikel einschlägig die Bedürftigkeit verurteilt und/oder Wege aus dieser hinaus gezeigt. Mir ist bewusst, dass es mehrere Stufen der Bedürftigkeit gibt und die Hauptverantwortung bei jedem selbst liegt, aber als jemand der ständig zweifelt, ob es in Ordnung ist, sich nach Freunden zu sehnen, weil ich derzeit keine habe, fühle ich mich durch diese Artikel nur in meinen Zweifeln bestätigt. Ihr Beitrag war der Erste, der Verständnis für mich und mein Bedürfnis hervorgerufen hat. Nach dem Lesen bin ich entschlossener, aktiv zu werden. Dafür wollte ich mich gern bedanken. Liebe Grüße, Maria

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