Der Mensch braucht ein traumatisierendes Ereignis nicht unmittelbar selbst zu erleben, um Traumafolgen davonzutragen. Es reicht, wenn eine Person Zeuge oder Zeugin ist.
Der 32jährige S. sah aus dem Fenster seiner Wohnung, weil er Schreie gehört hatte. Etwas entfernt auf der Straße, in der er wohnte, sah er, wie zwei Personen einen anderen Mann zusammenschlugen. Er rief sofort die Polizei an und rannte auf die Straße, um dem betroffenen Mann zu helfen. Doch als er ankam, war alles schon vorbei. Er sah, wie das Opfer blutete und, wie er später erfuhr, zwei Brüche davongetragen hatte. Er war erschüttert und begann zu zittern.
In den nächsten Tagen entwickelte er ähnliche Folgen wie das zusammengeschlagene Opfer. Er vermied es, allein auf der Straße zu gehen, schaute sich ständig um aus Angst vor Verfolgern oder anderen Bedrohungen.
Dieser Mann wurde co-traumatisiert. Er wurde nicht selbst zusammengeschlagen, doch er litt unter ähnlichen Folgen wie das Gewaltopfer. Warum ist das so? Weil wir Menschen über Mitgefühl verfügen. Die Fähigkeit zum Mitgefühl ist in allen Menschen angelegt, auch wenn sie bei manchen ausgetrieben und durch Rohheit ersetzt wurde. Wir sind in der Lage, das Leid anderer Menschen zu fühlen und zu spüren, als wäre es unser eigenes. Deswegen steckt Lachen an aber auch Weinen. Deswegen kann der traumatisierende Schrecken auch auf die Zeugen und Zeuginnen übergreifen. Sie können dann unter Traumafolgen leiden, auch wenn sie das Trauma nicht unmittelbar erlebt haben, sondern „nur“ miterlebt und mitgespürt haben.
Der sechsjährige O. schleicht sich durch den Flur in der Wohnung, in der er gemeinsam mit seinen Eltern lebt. Es ist Nacht. Er ist durch einen Schrei seiner Mutter wach geworden. Zwischen Mutter und Vater kriselt es. Es gibt oft Streitereien. O. schleicht sich bis zur Wohnzimmertür und lugt durch einen Spalt hinein. Er hört und sieht, wie sein Vater seine Mutter beschimpft und die Hand gegen sie erhebt. Dann schließt er schnell die Augen. Doch das Bild wird er nie vergessen. Noch 30 Jahre später, als er sich in eine Therapie begibt, erscheint ihm dieses Bild vor dem inneren Auge. Er erstarrt und schreckt zusammen. Er fühlt sich ohnmächtig und schuldig, weil er seiner Mutter nicht helfen konnte.
Solche Traumatisierungserfahrungen sind oft sehr nachhaltig, insbesondere wenn Kinder sie erleben. Auch bei Menschen, die vor den Kriegen in Syrien, der Ukraine, in Afghanistan oder Libyen geflohen sind, beobachten wir oft solche Erfahrungen und entsprechende Auswirkungen. Wenn das Nachbarhaus von einer Bombe getroffen wurde und die Menschen dort umgekommen sind, fährt der traumatisierende Schrecken auch durch die Körper und Gefühle der Zeug*innen. Auch wenn Menschen in einem Fluchtauto an einem ausgebrannten Bus vorbeigekommen sind, in dem andere Flüchtlinge bombardiert wurden, kann das ebenfalls traumatisieren.
Viele der betroffenen Menschen können sich dann ihre Traumafolgen nicht erklären, sondern halten sich für „verrückt“ oder meinen, sie würden sich zu wenig anstrengen, um sich „normal“ zu verhalten. Doch diese Traumafolgen sind durch Anstrengungen und Selbstvorwürfe nicht zu beseitigen. Sie gehören zum traumatischen Prozess und brauchen all das, was zur Heilung und zum Wiederaufrichten in Würde notwendig ist.
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