Verstörtsein und was es braucht

Die hauptsächlichste Nachwirkung traumatischer Erfahrung besteht darin, dass die Menschen verstört sind. Es gibt bei den meisten keinen Katalog von „Störungen“ oder von allgemeingültigen „Symptomen“, sondern eher ein Befinden, welches das Erleben ausdrückt, dass die Welt nicht mehr die gleiche ist wie früher, die äußere wie die innere Welt. Wir nennen es Verstörtsein. Manche sagen dazu „verpeilt“, „neben sich stehend“, „durcheinander“, „neben der Kappe sein“ …

Um zu verstehen, was dieses Verstörtsein beinhaltet, können wir Menschen fast alle – auch wir Begleiterinnen und Begleiter – auf eigene Erfahrungen des Verstörtseins zurückgreifen, auch wenn diese nicht in traumatischen Erfahrungen begründet sind oder sein müssen. Deswegen schlagen wir Ihnen wir folgendes kleine Experiment vor:

Nehmen Sie ein Blatt Din A4 und farbige Stifte und malen Sie, wie sich Verstörtsein anfühlt. Dazu können Sie sich vielleicht an eine Situation erinnern, in der Sie sich verstört gefühlt haben. Malen Sie drauf los. Es gibt kein „richtig“ und kein „falsch“. Folgen Sie Ihren inneren Bildern und Impulsen.

Und dann nehmen Sie ein größeres Blatt, ein möglichst großes Blatt Papier, und legen ihr Verstörtsein-Bild auf dieses Blatt. Sinnieren Sie nun, was Sie brauchen, wenn Sie verstört sind. Dabei werden Ihnen Erfahrungen einfallen, die Sie erlebt haben, als Sie einmal verstört waren. Aber vielleicht fallen Ihnen auch Situationen ein, in denen Sie keine oder zu wenig Unterstützung oder Schutz erhalten haben … Dann überlegen Sie, was Sie gebraucht hätten, was Sie gerne gehabt hätten, als Sie verstört waren. Malen (zur Not auch schreiben) Sie nun, diese Erfahrung „Was-braucht-mein-Verstörtsein“ auf das große Blatt rings um das kleine Blatt, auf dem das Verstörtsein abgebildet ist.

Wir schlagen Ihnen dieses kleine Experiment als jemand, der traumatisierte Menschen begleitet, aus zwei Gründen vor. Zum einen macht es deutlich, dass das Verstörtsein eine Erfahrung ist, die auch Sie haben, auch wenn das Verstörtsein der traumatisierten Menschen intensiver und anhaltender erlebt werden mag. Diese Traumafolgen sind also nicht nur eine Fremdsprache. Es existiert über das Verstörtsein eine Schnittmenge auch zu den Erfahrungen nicht traumatisierter Menschen, an denen Sie anknüpfen können. Und zum zweiten wissen Sie, was es brauchte, als Sie verstört waren. Genau diese Elemente, die Sie notiert oder gemalt haben, können Sie auch einsetzen in der Begleitung von traumatisierten Menschen. Wenn ich in einer Arbeit nicht mehr weiter weiß oder unsicher bin, dann stelle ich mir vor, mich mit der Person, die ich begleite, zu identifizieren. Ich frage mich „Was würde ich jetzt brauchen?“. Das ist ein Ansatz, der zumindest Annäherungen schafft, und deswegen möchte ich Ihnen diesen Tipp weitergeben.

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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