Kürzlich erzählte eine Frau, dass sie von einem Verteidiger als Zeugin während eines Gerichtsverfahrens „in die Mangel genommen“ wurde. „Ich konnte mich nicht mehr an alle Einzelheiten der Vergewaltigung erinnern und bei einer Zeitangabe muss ich mich vertan haben. Ich war so aufgeregt und durcheinander.“
Sie schämte sich ihrer Aufgeregtheit und Verwirrung. Dabei ist beides normal. Es ist üblich, aufgeregt zu sein, erst recht, wenn es darum geht, über eine intime Gewalterfahrung öffentlich zu berichten. Und es ist normal, dass die Erinnerungen nach einer traumatischen Erfahrung nicht geordnet sind. Das macht gerade einen Wesenszug des Traumas aus.
Warum? Weil in der traumatischen Gewalterfahrung unbewusst alle Energien auf das Überleben gerichtet ist. Dabei treten Hirnbereiche, die nicht unbedingt überlebensnotwendig sind, in den Hintergrund, in einen Sparmodus. Dazu gehören Areale wie der Hippocampus, der für kognitive Leistungen wie das Erinnern von Daten und Fakten zuständig ist.
Wenn ein Mensch eine traumatische Erfahrung macht, dann kann er gar nicht alle Fakten und Zeitangaben korrekt und geordnet parat haben. Verwirrungen und Unklarheiten sind ein Beleg dafür, dass die betroffene Person eine traumatische Erfahrung machen musste.
Das sollten Richter und Anwälte wissen.
Udo Baer
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