Ich habe in meiner über 30jährigen therapeutischen und beraterischen Praxis einen einzigen Täter kennengelernt, der wahrhaftige Schuldgefühle hatte. Alle anderen hatten Schuld, aber keine Schuldgefühle. Auf der anderen Seite kennen ich und meine Kolleginnen kaum ein Opfer, das sich nicht mit Schuldgefühlen quält. Diese scheinbar paradoxen und widersinnigen Erfahrungen zeigen, dass es zwischen Schuld und Schuldgefühlen zu unterscheiden gilt. Es gibt Schuld ohne Schuldgefühle und es gibt Schuldgefühle ohne Schuld.
Die Schuldgefühle ohne Schuld, das sind zumeist die Schuldgefühle der Opfer. Warum ist das so?
Warum sich Täter und Täter/innen nicht schuldig fühlen, will ich hier nicht näher betrachten. Der Kern liegt darin, dass sie fast nie Mitgefühl mit den Opfern haben (sonst wären sie nicht Täter). Deswegen gibt es auch nachträglich kein Mitgefühl, das in Schuldgefühle mündet.
Warum haben Opfer, die keine Schuld haben, dennoch Schuldgefühle? Weil ihnen etwas Unfassbares widerfahren ist! Etwas Unbegreifliches, etwas Unverständliches, etwas Unfassbares! Diese Handlungen machen fassungslos und entziehen sich jedem Verstehen. Wenn Menschen so etwas geschieht, dann versuchen Sie oft, sich irgendwelche Zusammenhänge zu bauen, die Unerklärliches erklärbar machen. „Das muss doch irgendwie einen Grund gegeben haben“, sagt eine Frau, „den habe ich nirgendwo gefunden. Also muss es an mir gelegen haben.“
Solche Überlegungen, die zumeist unbewusst oder halbbewusst ablaufen, mögen unvernünftig sein. In der Logik der Gefühle machen sie für viele Sinn und führen zu den Schuldgefühlen der Opfer.
Ein weiteres kommt hinzu: Erfahrungen traumatisierende Gewalt sind Erfahrungen extremer Wirkungslosigkeit. Dadurch, dass sich Opfer selbst die „Schuld“ geben, weichen sie der Erfahrung der Wirkungslosigkeit aus. So wiedersinnig es zu sein scheint, dass Opfer selbst ihr eigenes Handeln, ihren Blick, ihre Gesten, ihr irgendwas zur Ursache dessen machen, was ihnen geschehen ist, so ist es für viele doch ein Konstrukt, das ihnen aus der nicht aushaltbaren Wirkungslosigkeit hilft.
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Hinzu kommt ja dann noch die Dynamik des Fremschämens.
Söhne schämen sich für die Kriegsverbrechen des Vaters, oder anderer Straftaten, die ihn z.B. ins Gefängnis brachten.
Oder Männer schämen sich dafür, dass ihre Frau ein Opfer von Verführung oder Missbrauch geworden ist, auch wenn die lange vor der Ehe geschah.
Oft ist es auch schlicht und ergreifend EINGEPFLANZTE SCHULD.
Täter sagen Dinge wie:
„Wenn Du nicht so süß wärst, dann *müßte* ich nicht“
„Wenn Du nicht so blöd wärst, dann bräuchte ich nicht“
„Wenn Du nicht solche Dinge sagen; so gucken; so sein würdest, dann täte ich nicht“
Täter sagen IMMER, dass es am Opfer liegt.
Niemals an ihnen SELBST.
Niemals.
Das Opfer denkt es sei schuld, „weil
guten Menschen nichts Schlechtes widerfährt“
Menschen, die von der Straftat Kenntnis erhalten, suchen die Schuld bei dem Opfer, es wird wenigstens mangelnder Gehorsam vermutet. Der Täter versucht ebenfalls seine Schuld beim Opfer abzuladen.
Die Betroffenen lassen dies hoffentlich nie zu, sind dann aber kein „gutes“ Opfer.
Allein die physische Existenz des Opfers, erinnert den Täter an seine Schuld und lässt ihn aggressiv gegen das Opfer vorgehen, das wiederum die Schuld zugewiesen wird.
Ich denke, der Täter fühlt die Schuld, möchte aber nicht daran erinnert werden, weil er keinerlei guten Ressourcen oder Mittel hat, dieser zu begegnen. Und so wird gelegentlich das Opfer ausgelöscht, um das quälende Gewissen ruhig zu stellen.
Ich denke, Täter müssen therapiert werden, damit sie nicht noch Schlimmeres anrichten.
Dem Opfer tut eine Therapie gut, um weiter leben zu können.
Die oft geäußerte Begründung, man müsse Opfer therapieren, damit sie keine Täter werden, ist wiederum der Versuch, sie zu potentiell Schuldigen zu machen und somit Müll.
Sehr geehrter Herr Baer und Frau Frick Baer,
mein Name ist Bianca Nawrath und ich bin Autorin im Bereich Roman, Film und Fernsehen. Als solche bin ich interessiert an Ihrer Arbeit in der Täterhilfe. Aktuell entwickle ich eine Geschichte über Unfalltäter und das ambivalente deutsche Verhältnis zum Thema Schuld und suche deshalb nach Gesprächspartner*innen für die Recherche.
Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich suche nach Selbsthilfe- und Therapiegruppen, nach Therapeut*innen, Ehrenamtlichen, Tätern, die sich wohl fühlen (völlig anonym!) mit mir zu reden und mir ihre Sichtweisen zu erklären. Meinen Sie, es besteht die Chance der Vermittlung durch Ihren Verein?
Zur Einordnung, damit Sie meine Interntion verstehen und dass es mir nicht um sensationslustige Verurteilung geht: Ich finde interessant, wie im öffentlichen Diskurs über die Taten und Schuldfragen von Einzelpersonen geurteilt wird, wie laut und populistisch sie teilweise besprochen werden – und wie leise im Kontrast dazu die Debatte über gesamtgesellschaftliche Schuldfragen diskutiert wird. Erst recht im Zuge der Digitalisierung. Gleichzeitig ist Schuld ein ur-menschliches Thema, wie Liebe, Tod und Lust. Deutsche haben historisch gesehen ein interessantes Verhältnis zur Schuld, weshalb ich diese Geschichte besonders spannend für ein deutsches Publikum finde. Ich kann mich selbst nicht immer von Sensationslust frei machen – genauso wenig wie von Stolz, Vorurteilen und Kontrollsucht. Gleichzeitig funktioniert Gesellschaft ohne Empathie nicht. Eine Geschichte über Unfalltäter bietet die Chance, ambivalenten Figuren eine Stimme zu geben und in unseren Köpfen Räume zwischen schwarz und weiß zu öffnen.
MfG,
Bianca
Sorry, dass ich so spät und zu spät antworte. War lange in Frankreich, fast kein Internet, aber viel Ruhe …
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