Eine Frau Anfang 70 muss ins Krankenhaus und ihre Erkrankung ängstigt sie. Nachts wacht sie dort auf und erinnert sich an Angstträume. Ihr Mann und ihre drei Kinder begleiten sie und geben ihr Halt und Schutz. Doch die Angstträume sind massiv. Sie beziehen sich nicht nur auf die möglichen konkreten Folgen der Erkrankung, sondern vor allem auf den Tod ihres ersten Partners 30 Jahre zuvor.
Als sie wieder gesundet, erzählt sie, dass sie der alte Schock, vielleicht das alte Trauma, wieder eingeholt hat und dass sie es aber nicht verstehe. Sie hat damals so viel getrauert und so viel Schmerz empfunden, dass sie wirklich danieder gesunken war, sich zumindest so fühlte. „Doch dann ging es wieder aufwärts, bis ich schließlich meinen jetzigen Partner kennengelernt habe und nach einiger Zeit auch zulassen konnte, dass wir uns lieben. Seitdem war ich sehr stabil.“
Wir reden darüber, dass zwei Ereignisse existentieller Bedrohung aktuell ihr Leben beeinflussen: der frühe Tod ihres ersten Mannes und jetzt die Bedrohung durch ihre Krankheit. Beide Male ging es um existentielle Bedrohungen, was ein Kernmerkmal eines Traumas ist. Sie kann dies nachvollziehen, fragt dann aber: „Das ist doch nun schon so lange her. Wieso ist das denn jetzt, als wäre das erst vorige Woche passiert? Das verstehe ich nicht. Da muss doch mit mir etwas nicht stimmen.“
Ich erkläre ihr, dass wir Menschen über zwei Gedächtnissysteme verfügen. Eines ist das kognitive Gedächtnis, das Gedächtnis der Fakten, Daten, Reihenfolgen und so weiter. Dieses Gedächtnis ist auch für die zeitlichen Abstände zuständig, ob wir etwas vor kurzer Zeit erlebt haben oder vor langer Zeit. Daneben gibt es das Gedächtnis des Erlebens, das Gedächtnis der Gefühle, der Sinne, der Situationen, der Atmosphären und ähnlichem. Dieses Gedächtnis, Leibgedächtnis oder implizites Gedächtnis genannt, kennt kaum Reihenfolgen und keine zeitlichen Abstände. Es ruft hervor, dass etwas, was wir gespürt haben, in uns wieder lebendig wird, als wäre es jetzt. Das Traumagedächtnis ist ein Gedächtnis ein besonderer Teil des Leibgedächtnisses, das in besonderer Weise dafür da ist, uns an existentiell bedrohliche Situationen zu erinnern. Das ist oft schmerzhaft, doch das hat auch den Sinn, dass wir Menschen uns nicht wieder in solche Situationen begeben, zum Beispiel die, bei denen wir Unfälle erleben können oder anderes, was uns bedroht. Das Traumagedächtnis kennt keine zeitlichen Abstände. „Bei Ihnen ist alles in Ordnung. Als Sie die existentielle Bedrohung Ihrer Erkrankung erlebt haben, hat das Traumagedächtnis dafür gesorgt, dass auch die frühere existentielle Bedrohung wieder in den Vordergrund trat und spürbar wurde.“
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