Menschen zu begleiten, die traumatisierende Erfahrungen machen mussten, ruft bei zahlreichen Fachleuten Unsicherheiten hervor. Viele meinen, man müsse vorsichtig sein, um ja „nichts aufzurühren“. Das geht so weit, dass manche Fachleute vertreten, man dürfe traumatisierten Menschen nicht einmal über ihr traumatisches Erleben, über die traumatisierenden Ereignisse erzählen und sich darüber mit anderen austauschen lassen geschweige denn Therapie oder sonstige Hilfen anbieten, um „nicht zu retraumatisieren“. Im anderen Extrem gibt es Positionen, die fordern, dass Traumata „aufgedeckt“ werden müssen und dass Menschen mit Traumatisierungen unbedingt und so bald wie möglich nach den Traumaereignissen diese mitteilen müssen.
Wir teilen beide Auffassungen nicht, denn beide können in ihrer Radikalität zu Retraumatisierungen führen und schaden den betroffenen Menschen. Unsere Position basiert auf den Erfahrungen unserer therapeutischen Arbeit, der Kreativen Traumahilfe und des Projektes „Alter und Trauma“, durch die wir uns veranlasst sehen, die folgenden Thesen für eine ethisch angemessene Traumawürdigung vorzulegen und zur Diskussion zu stellen. Orientierung und „höchstes Gut“ im Sinne der Ethik ist uns dabei die Würdigung der entwürdigten Opfer traumatisierender Erfahrungen. Wir wissen und betonen, dass jedes Traumaerleben eines Menschen sich von dem eines anderen unterscheidet und jede Traumawürdigung individuell darauf eingehen muss.
Diese Orientierung schlägt sich in den folgenden Leitlinien nieder.
Das Erleben einer traumatischen Situation und deren Folgen sind voller Widersprüchlichkeiten. Wir werden deshalb im Folgenden einige besonders relevante Widersprüchlichkeiten skizzieren und eine Haltung des „UND“ entwerfen, die diese Widersprüchlichkeiten würdigt.
1 Traumafolgen: Das Erleben eines Traumas ist eine Überforderung und eine existenzielle Bedrohung. Viele Menschen, die das erfahren, neigen dazu, sich vor der Überwältigung durch dieses bedrohliche Erleben zu schützen, indem sie starke Mauern des Schutzes hochziehen. Sie verdrängen und verschieben Erinnerungen, Gefühle und Körperreaktionen, die mit dem Traumaerleben zusammenhängen.
UND gleichzeitig sehnen sie sich danach, diesen Schrecken und die Überforderung loszuwerden sowie die Folgen abzubauen.
1 Traumawürdigung: Wir betrachten die „Mauern“ der traumatisierten Menschen als notwendigen Selbstschutz. Dieses sinnhafte Verhalten respektieren wir. UND wir bieten Hilfe und Unterstützung an. Die Haltung, Hilfe anzubieten und nicht zu fordern, beruht auf einer Haltung tief empfundener Freiwilligkeit.
2 Traumafolgen: Traumatisierte Menschen neigen dazu zu verstummen. Ihr Leiden wurde meist nicht gehört und übertönt. UND gleichzeitig gibt es das Lautwerden des Körpers (durch Krankheiten) und der Seele (durch Ängste und andere Gefühle).
2 Traumawürdigung: Wir würdigen, was ist: die Stille, das Schweigen, aber auch die kleinen Irritationen und Zeichen, die Körpersignale, die nächtlichen Ängste usw. UND wir bieten an, Unerhörtem zu Raum zu geben. Wir bieten uns an, zuzuhören.
3 Traumafolgen: Die meisten Opfer traumatisierender Gewalt waren in der Zeit danach mit ihrem Schrecken allein. Ihr Schmerz wurde übersehen, sie wurden nicht ernst genommen, sie wurden nicht getröstet. UND sie fühlten und fühlen eine große Sehnsucht nach Begleitung und Unterstützung, auch wenn sich viele mit dem Alleinsein resignierend arrangiert haben.
3 Traumawürdigung: Wir zeigen Respekt vor dem Rückzug und betonen die Freiwilligkeit unserer Angebote. UND wir zeigen: „Sie sind nicht allein!“ Wir bieten Da-Sein, Dabei-Sein, Daneben-Sein als Alternative zum Alleinsein, ohne dass beide Seiten, die traumatisierten und die begleitenden Menschen, etwas tun „müssen“. Da-Sein mit dieser Haltung hilft und ist der Anfang des Trostes.
4 Traumafolgen: Im Schock des Traumaerlebens, in der Hilflosigkeit und dem Ausgeliefertsein erstarren viele Opfer UND gleichzeitig tobt die Hocherregung in ihnen. Wie sich das äußert, ist individuell unterschiedlich. Der Körper, der Leib hat in der traumatischen Situation alles mobilisiert, um sich zu wehren oder zu fliehen. Doch die Vergeblichkeit dieses Bemühens und das Alleinsein danach führen oft dazu, dass die Erregung in den traumatisierten Menschen dauerhaft erhalten bleiben, zumindest die Neigung zu Hocherregung.
4 Traumawürdigung: Wir respektieren die Erstarrung als für viele notwendige Schutzreaktion und betonen, dass nur kleine Schritte, die individuell angemessen sind, die Erstarrung, die mit einem hohen Anspannungsniveau einhergeht, nach und nach lösen können. UND wir bieten an, individuelle Wege des Erregungs- und Spannungsabbaus zu finden und traumatisierte Menschen dabei zu unterstützen. Dabei ist zu differenzieren, wer aufgrund der Schwere seines Leidens und der geäußerten Hilfsbedürftigkeit therapeutische Hilfe braucht oder ob niedrigschwelligere Begleitung angemessen ist, ob also Angebote explizit als Traumahilfe benannt werden oder genereller auf Erregungs- und Spannungsabbau fokussieren.
5 Traumafolgen: Viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen betonen, dass sie stark sind und „es allein“ schaffen. UND sie haben die Erfahrung gemacht, Opfer zu sein und als Objekt behandelt zu werden. Sie spüren oft, manchmal mit zunehmendem Alter, dass es über ihre Kraft geht, diese ihre Stärke aufrecht zu erhalten.
5 Traumawürdigung: Wir spiegeln und bestätigen den Überlebenswillen und die Stärke dieser Menschen. Wir bekräftigen sie darin und fördern das Selbstbewusstsein und die Selbstwertschätzung. UND wir sehen auch, dass sie Opfer waren (nicht nur, aber auch) und fördern Möglichkeiten, sich an andere Menschen, die sie respektieren, anzulehnen.
6 Traumafolgen: Viele traumatisierte Menschen sagen, diese Erfahrung sei so lange her und „das“ müsse jetzt „endlich vorbei“ sein. UND auch viele dieser Menschen leiden unter Traumafolgen. Manchmal bringen sie diese Folgen nicht mit dem Trauma in Verbindung.
6 Traumawürdigung: Wir würdigen, was ist, und verstehen und akzeptieren die Sehnsucht nach Ruhe. Dass unsere Angebote beunruhigen können, darauf weisen wir im Vorfeld hin und respektieren jedes Nein. UND wir würdigen auch das Leiden! Ohne Leiden ist keine Hilfe, keine Begleitung notwendig. Nur wenn Menschen leiden, bieten wir Unterstützung an. Wir würdigen alles, was ist, in all seiner Widersprüchlichkeit. Auch die Verzweiflung, die manche Menschen erfasst, weil es „endlich vorbei“ sein muss, aber nicht ist.
7 Traumafolgen: Eine Folge traumatischer Erfahrungen besteht darin, dass die betroffenen Menschen alles versuchen, Trigger, also Situationen und Eindrücke, die dem Traumaereignis ähneln, zu vermeiden. UND sie werden getriggert. Oft da, wo sie es nicht erwarten. Durch Gerüche, die an Täter sexueller Gewalt erinnern, durch Geräusche, die Bombenexplosionen ähneln und vielem anderem mehr. Solche Trigger beunruhigen UND können Krisen hervorrufen, die ein Trauma-ähnliches Erleben beinhalten.
7 Traumawürdigung: Wenn Trauma-Trigger bekannt sind, bemühen wir uns, sie zu vermeiden. UND wir wissen, dass sie nicht zu vermeiden sind. Wir fordern deshalb traumakompetente Mitarbeiter/innen, die auch auf unbekannte Trigger und daraus entstehende Situationen reagieren können, und setzen sie ein. Traumasensible Arbeit braucht Traumakompetenz: ein differenziertes Verständnis von Traumata und Traumafolgen, die Fähigkeit, mit Krisen umgehen zu können, und die Kompetenz, mit den Widersprüchlichkeiten des Traumaerlebens und der Traumawürdigung in der Praxis zu leben. Menschen, die sich in akuten Krisen befinden oder große Angst vor einem Krisenausbruch haben, brauchen eine spezifische Krisenintervention. Ihre Teilnahme an offenen oder themenspezifischen Angeboten der Traumabegleitung ist deshalb nicht angezeigt.
8 Traumafolgen: Viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen sind chronisch erschöpft von der Anstrengung, das Leben „trotzdem“ zu meistern. UND sie haben viel Kraft, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen. Manchmal fehlt ihnen das Maß, auf sich und andere zu achten, denn sie haben oft Erfahrungen „maßloser“ Gewalt und Verletzungen.
8 Traumawürdigung: Wir achten beide Aspekte: die Erschöpfung und die Kraft. UND wir unterstützen darin, das eigene Maß zu finden. Dabei versuchen wir, Vorbild zu sein, auch unsere Energie und unsere Erschöpfung zu achten und unser Maß zu finden.
Quelle: KLT Online Journal, Beitrag Nr. 4, März 2015, Dr. Udo Baer, Dr. Gabriele Frick-Baer, www.baer-frick-baer.de
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