Trauma und traumatischer Prozess bei Flüchtlingen und Ayslsuchenden

Trauma

Unter einem traumatischen Ereignis wird eine spezifische Art von Erfahrung verstanden. Fischer/Riedesser definieren sie als eine existenziell bedrohliche Situation, die mit den gegebenen Möglichkeiten nicht bewältigt werden kann und zu Hilflosigkeit und einer „dauerhaften Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“ führen.

Die bislang einzige deutsche Studie ergab, dass 52% der Asylbewerber/innen eine oder mehrere traumatische Erfahrungen vor der Flucht im Herkunftsland erlebt haben, darüber hinaus 37,5 % eine Naturkatastrophe (Gäbel et al. 2006). In Norwegen zeigte eine Studie unter Asylbewerber/innen eine Prävalenz von 45% der Asylbewerber/innen. Durchschnittlich erlebten die befragten Asylbewerber/innen neun traumatische Situationen (Jakobsen et al. 2011). Eine dänische Untersuchung ergab, dass 45% der befragten Asylbewerber/innen Folter erlitten hatten, 44% in Gefangenschaft waren und 59% Zeugen von bewaffneten Auseinandersetzungen waren (Masmas et al. 2008).

 

 

Traumafolgen

Huber und andere Autor/innen führen eine Fülle von Folgen auf, die sich aus traumatischen Erfahrungen ergeben. Im Posttraumatischen Stress-Syndrom werden vor allem Folgen wie Flashbacks (Wiedererleben), Vermeidungsverhalten und emotionale Taubheit sowie Übererregtheit zusammenfassend klassifiziert. Bei bis zu 45% der Asylbewerber/innen wurde ein Posttraumatisches Stresssyndrom festgestellt (Gäbel, Jakobsen).

Neben den bekannten Traumafolgen lassen sich hohe Raten von Komorbidität feststellen, also zusätzliche psychische und andere Erkrankungen. Zum Beispiel zeigten die Untersuchungen von Jakobsen bei

  • 33%: Depressionen
  • 30% somatoforme Störungen
  • 70% Angststörungen

 

Kumulative Belastung und sequentielle Traumatisierung

Khan (1963) hat den Begriff der „kumulativen Belastung“ bei traumatisierten Menschen eingeführt. Er beschreibt damit, dass eine Aufeinanderfolge von Belastungen (traumatischen wie nicht-traumatischen) zu einer traumatischen Gesamtbelastung führen kann, die weit über die unmittelbaren Folgen des einzelnen traumatischen Ereignisses hinausgehen. Keilson (1979) hat in seiner Untersuchung jüdischer Flüchtlingskinder während und nach dem zweiten Weltkrieg in den Niederlanden Flüchtlinge das Konzept der „sequentiellen Traumatisierung“ entwickelt. Darunter wird eine Abfolge von traumatisierenden bzw. traumaverschärfenden Erfahrungen verstanden. Besondere Beachtung fanden in seiner Untersuchung die Erfahrungen der Kriegswaisen nach dem Ende der unmittelbaren Bedrohung, die mit manchen Erfahrungen von Asylbewerber/innen vergleichbar sind (unsichere Situation usw.).

 

Traumatischer Prozess

Frick-Baer (2013) hat „die Zeit danach“, also nach dem unmittelbaren Ereignis, in einer Studie untersucht und wie Keilson betont, dass entscheidend für die Bewältigung der Traumafolgen ist, ob die traumatisierten Menschen in dieser Zeit danach sich alleingelassen fühlen oder ob sie Erfahrungen von Solidarität und Unterstützung erfahren.

Im Gefolge dieser Untersuchungen geht das Projekt DRACHENFLUG davon aus, dass die meisten Flüchtlinge und Asylsuchende sich in einem traumatischen Prozess befinden. Dieser umfasst folgende Sequenzen:

 

  1. Zeit davor (positive wie negative psychosoziale Erfahrungen, manchmal Naturkatastrophen, Armut, Not …)
  2. die Gewalt, die Not (Hunger, Folter, Gewalt, Tod, Vertreibung u. ä.)
  3. Aufgeben (der Entschluss/der Zwang, zu fliehen bzw. auszuwandern)
  4. die Migration (also die Fluchterfahrungen: Angst, Unsicherheiten, Bedrohungen usw. bei Flucht/Migration, auch existenzielle Abhängigkeiten von Fluchthelfern, Polizei …)
  5. die unsichere neue Situation (manchmal Erleichterung, dem Schlimmen entkommen zu sein, aber auch extreme Unsicherheit, oft existenzielle Überforderung)
  6. hier gibt es verschiedene Varianten:

6a      Sicherung des Aufenthaltsstatus (aus Flüchtlingen werden Migrant/innen)

6b      freiwillige Rückkehr in die Heimat

6c       zwangsweise Rückkehr in die Heimat

Chronifizierung/Traumabewältigung …

 

 

 

Literatur:

 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. (2011): 41.332 Asylanträge im Jahr 2010 [Pressemeldung]

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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