Das Wort „Trauma“ bedeutet Wunde. Traumatische Wunden sind nachhaltig und tief. Sie wirken lange nach und schaffen viel Leid. Körperliche Wunden, bei denen die Muskulatur oder Haut verletzt wird, brauchen einen Verband oder sogar einen Gips und andere Schutzhüllen. Das ist bei seelischen Wunden wie den Traumata nach sexueller Gewalt und anderen Entwürdigungen oft ähnlich.
Doch manche körperlichen Wunden benötigen, dass Luft an sie herankommt, damit sie heilen können. Für viele Menschen mit traumatischen Erfahrungen ist das Verhältnis zur eigenen Wunde zwiespältig. Sie haben einerseits das Bedürfnis, ihre Verletzungen zu verbergen, um sie zu schützen. Andererseits hindert sie dieser Schutz manchmal daran, Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Die Nöte nicht zu teilen, kann Gefühle der Einsamkeit hervorrufen oder verstärken.
Diese Zwiespältigkeit sollte respektiert werden bei anderen und bei sich selbst. In der therapeutischen Begleitung traumatisierter Menschen habe ich oft die Erfahrung gemacht, dass es guttut, wenn die Klient*innen von ihren Verletzungen erzählen, sie malen, musizieren oder sonst wie zum Ausdruck bringen. Sie können dadurch Gehör und Verständnis finden und gemeinsam können Wege gesucht werden, aus der Not herauszufinden. Ich kenne aber auch Klient*innen, mit denen ich (und meine Kolleg*innen) erfolgreich therapeutisch gearbeitet haben, ohne dass zum Beispiel über ein traumatisches Ereignis konkret berichtet wurde. Die Folgen der traumatischen Erfahrung waren sichtbar und spürbar. Und an denen konnte gearbeitet werden, ohne dass das Ereignis, das zur Wunde geführt hat, öffentlich werden musste, nicht einmal im vertrauten therapeutischen Rahmen.
Die Wunde zeigen oder nicht? Da haben viele Menschen unterschiedliche Impulse. Die zwiespältigen Impulse der betroffenen Menschen müssen ernstgenommen werden. Da gibt es keine verbindlichen Regeln und sollte es keine geben.
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Guten Tag Herr Baer, ich begleite seit einigen Monaten einen 18jährigen afghanischen Flüchtling ambulant. Er lebt in der Regelgruppe von unserem Träger. Die ambulante Begleitung wurde zusätzlich eingerichtet, weil er Folterung und Verschleppung durch die Taliban und auf der Flucht erlebt hat. Sein ganzer Körper ist durch Narben gekennzeichnet.
Die ambulante Begleitung konnte er die ersten drei Monate gut annehmen und wir konnten ein Vertrauensverhältnis während dieser Zeit aufbauen. Wegen Auffälligkeit besteht seit einiger Zeit der Verdacht, dass er sich radikalisiert. Auch aus der ambulanten Begleitung zieht er sich immer mehr zurück. Bei unserem letzten Termin, wurde er sehr emotional. Es ging um die Zustände in seinem Land. Krieg, Hunger, Erdbeben… Er stellte mir die Frage „Warum..“. Wir waren Beide ergriffen von der Situation in seinem Land. Meine Frage ist, wie kann ich ihn am Besten helfen oder begleiten. Eine weitere Frage beschäftigt mich, ob ich mich nicht richtig verhalten habe, da er nicht mehr die Begleitung so annehmen kann?
Viele Grüße, Martina Bolz
Liebe Frau B.,
ob Sie alles richtig machen, kann ich aus der Ferne nicht beurteilen. Aber es spricht nichts dafür, dass etwas falsch läuft. Sie begleiten den jungen Mann einfühlsam und achtungsvoll und das ist großartig.
Ich habe häufig solche Phasen in der Begleitung komplextraumatisierter Menschen erlebt. Sie sind wiederholt existenziell bedroht und gefährdet worden. Das hat mindestens zwei Wirkungen. Die eine besteht darin, dass ihr Misstrauen ins Riesenhafte wächst. Gegen alle anderen Menschen und auch gegen sich selbst. Das Grundvertrauen in andere Menschen ist weg und das bekommen Sie ab. Da müssen Sie und da muss er hindurch. Da hilft nur, in Beziehung zu bleiben und geduldig und beharrlich zu sein. Das hilft. Nicht immer, manchmal scheitern wir. Aber oft.
Die zweite Folge besteht darin, dass durch die Folter und andere existenzielle Not die Sinnfrage aufgeworfen wird. Das, was der junge Mann erlebt hat und viele Menschen in Afghanistan und anderswo erleiden müssen, ist sinnlos. Steht gegen alles Sinnenhafte auf dieser Welt. Sie können nur helfend begleiten, wenn Sie Verständnis zeigen und ihm erklären, warum die Sinnfrage so existenziell aufgeworfen werden muss. Und indem Sie ihm erzählen, was für SIE singhaft im Leben ist. Ein Lächeln für ein Kind, die Hilfe für einen Menschen in Not, das Füttern eines Tieres und das Pflanzen einer Blume … Was auch immer.
Weiter so und viel Erfolg.
Herzliche Grüße
Udo Baer
Lieber Herr Baer, vielen Dank für Ihre Worte. Sie haben mir viel damit geholfen. Auch ihr Buch „Flucht und Trauma“ empfand ich als sehr hilfreich in meiner Arbeit.
Gerne würde ich auch mit Geduld und Ausdauer versuchen in Beziehung zu bleiben, aber das hiesige Jugendamt orientiert sich stark an Zielen und wenn ein Klient nicht kooperiert, indem er sich z.B. zurückzieht, wird das als mangelnde Mitarbeit gesehen und die Hilfe wird dann leider eingestellt. Deshalb denke ich, dass im morgigen HPG die ambulante Hilfe eingestellt wird, was überhaupt nicht meiner inneren Überzeugung entspricht. Gerne hätte ich mit dem jungen Menschen weiter gearbeitet und glaube auch, dass es für ihn wichtig ist im Gespräch zu bleiben.
Herzliche Grüße