Beitrag von Dr. Claus Koch
Mediziner waren sich Ende des 19. Jahrhunderts bis weit in 20. Jahrhundert darin einig, dass ein Säugling als „Rückenmarksindividuum“ ohne jegliches subjektives Empfinden zur Welt kommt und man deswegen im Umgang mit ihm auf seine Schmerzempfindungen und Gefühle keine Rücksicht zu nehmen bräuchte. Eine Ansicht, die in der Pflege und medizinischen Behandlung von Säuglingen und Kleinkindern noch weit bis in die 1950er-Jahre vertreten wurde. Nicht nur die willkürliche Trennung von Mutter und Kind blieb nach der Geburt gang gäbe, sondern auch der Umgang mit Kleinkindern und Kindern war von der „wissenschaftlichen“ Annahme geprägt, dass diese gegen die Folgen von psychischer Misshandlung und Missbrauch weitgehend immun seien, weil mehr oder weniger empfindungsunfähig und ohne Einsicht. „Das wächst sich aus“ war ein Satz, der vielen Eltern, Kinderpsychologen und Ärzten bei entsprechender Symptomatik damals schnell über die Lippen kam. Erst mit dem Beginn der Säuglingsforschung und dem Paradigmenwechsel in puncto Erziehung ab Mitte der 1960er Jahre änderte sich diese Einstellung grundlegend.
Am Montag, den 24. Juni 2019 berichtete das ARD-Magazin „Monitor“, dass ein einschlägig vorbelasteter Assistenzarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Saarland in Homburg wohl über Jahre hinweg im Rahmen von „Behandlungen“ etliche Kinder missbraucht habe, wobei der zusätzliche Verdacht besteht, dass das Klinikum trotz aller Verdachtsmomente zunächst versuchte, den Fall geheimzuhalten, bis es 2014 dann doch zu einer Anzeige kam. Es ging um 34 Kinder, zumeist Jungen im Alter unter 14 Jahren. Insoweit wiederholt sich auch in diesem Fall nur, was wir bereits von anderen Missbrauchsfällen wissen – institutionelles und behördliches Versagen. Der vorliegende Fall in Homburg öffnet allerdings noch eine neue Dimension, denn die Klinik hielt es trotz ihrer Anzeige gegen den mutmaßlichen Täter nicht für nötig, die Eltern der betroffenen Kinder zu benachrichtigen. Erst als das auffällige Verhalten eines der betroffenen Kinder seine ahnungslosen Eltern alarmierte, ließen sich die dafür möglichen Gründe nicht mehr verheimlichen. Die ungeheuerliche Begründung, die jetzt die Klinikleitung dafür gab, die Eltern hinsichtlich des möglichen Missbrauchs ihrer Kinder in der Klinik nicht zu benachrichtigen, erinnert an Zeiten, als man in Kindern mehr oder weniger „niedere Wesen“ sah, die eben noch gar nicht verstehen können, was so alles mit ihnen passiert. Der Direktor des Klinikums, Wolfgang Reith, führte nach den Gründen für das Schweigen befragt aus, „dass mit einer Information über eventuell nicht medizinisch notwendige Untersuchungshandlungen den Patientinnen und Patienten mehr geschadet als genutzt werde, wenn als normal empfundene Untersuchungen nachträglich in einem anderen Licht erscheinen.“ „Normal empfundene Untersuchungen“! Erst jetzt – also 5 Jahre später – sei man dem Rat eines Jugendpsychiaters gefolgt, die Eltern der betroffenen Kinder zu unterrichten.
Auch dieser Fall, von Missbrauch betroffenen Kindern vorsätzlich nicht professionelle Unterstützung zukommen zu lassen, der stark an die Vorgänge um den Missbrauch auf dem Campingplatz in „Lügde“ erinnert (siehe meinen letzten Blogbeitrag „Kinder ernst nehmen – oder prozesstauglich machen?“) liest sich wie der Tatbestand unterlassener Hilfeleistung. Dass sich die Staatsanwaltschaft, wie auch in diesem Fall, dabei auf Verfahrensgrundsätze zurückzieht – die Kinder hätten noch keinen Status als „Verletzte“ gehabt – ist eine Seite der Medaille. Dass sich aber der Direktor eines Klinikums (!) über die wissenschaftliche Expertise und das hinlänglich bekannte Wissen über die traumatisierenden Folgen sexuellen Missbrauchs mit einer solchen Erklärung hinwegsetzt, zeigt, wie schutzlos Kinder immer noch Erwachsenen ausgesetzt sind, die glauben, über deren Schicksal bestimmen zu können, wenn es ihrer Macht oder dem Ruf ihrer Institution dienlich ist.
Quelle: SZ.de „Die Kinder von Homburg“. 25.6. 2019