Das Recht auf Angst und das große UND (Angst 1)

Seit den Anschlägen von Paris geht das Gespenst der Angst umher. Die Menschen, junge wie alte, haben Angst, dass sich Terroranschläge wiederholen. Viele Aufrufe gibt es, sich von der Angst „nicht unterkriegen“ zu lassen und den Terroristen zu zeigen, dass „wir keine Angst haben“. Doch so einfach ist es nicht. Die Angst ist vorhanden, auch bei alten Menschen, auch bei Angehörigen, auch bei Mitarbeiter/innen und vielen anderen. Ich werde deshalb in einigen Beiträgen auf die Ängste eingehen und Anregungen für den Umgang mit der Angst geben. Und für Menschen, die Traumata erlebt heben, mobilisieren diese Ereignisse und die darauf folgenden Atmosphären den alten Schrecken.

 

Was nicht hilft: die Angst kleinzureden. Ja, es stimmt, die Gefahr, bei einem Fahrradunfall zu sterben, ist größer, als den Tod durch einen Terroranschlag zu erleiden. Das zu erwähnen, ist nicht falsch. Doch zu erwarten, dass dadurch die jetzt vorhandenen Ängste kleiner werden, ist ein Irrtum. Es gibt kleine Ängste und es gibt große Ängste. Im Umgang mit kleinen Ängsten mag das Kleinreden helfen, zum Beispiel bei der Angst vor einer schlechten Note bei der Klassenarbeit. Bei großen Ängsten, bei den existenziellen Ängsten, geht es um Leben und Tod. Da hilft nicht, sie kleinzureden.

 

Was auch nicht hilft: sich (mit Verstandeshilfe) von den eigenen Ängsten zu distanzieren. Wenn eine Psychologin in spiegel-online/bento angesichts der Nach-Paris-Ängste dazu auffordert, „sich innerlich davon zu distanzieren und wieder eine objektive Haltung einzunehmen“, wann wird dies den meisten so nicht gelingen. Die Angst und vor allem die existenzielle Angst ist bei den meisten Menschen stärker als eine „objektive Haltung“. Starke Gefühle können den Verstand und die Objektivität überlagern. In der Liebe wie in der Sehnsucht, im Zorn wie in der Angst. In Paris zum Beispiel reden fast alle davon, dass sie sich von der Angst nicht einschüchtern lassen und ihr Leben angstfrei weiterleben wollen. Und dann knallt die Birne einer Straßenlaterne entzwei und nahestehende Passanten laufen voller Angst weg oder werfen sich panisch hin. Andere werden davon angesteckt, rennen weg, werfen dabei Cafétische um. Die Flucht setzt sich über mehrere Straßenzüge fort. Ein Polizist beginnt, in Blaue zu schießen … Eine Woche nach den schlimmen Attentaten in Paris ist das verständlich: trotz aller Argumentationen und Aufrufe sitzt die Angst den Menschen in den Knochen, im Herzen.

 

Was also tun? Die Angst ernst nehmen und zulassen. Selbstverständlich ist es wichtig, sich nicht in Ängste hineinzusteigern und sich aus Angst vor dem Leben zurückzuziehen. Doch das droht umso mehr, als Ängste eingesperrt und nicht geteilt werden. Deswegen ist es wichtig, in den Familien, in der Therapie, wo auch immer, der Angst Raum zu geben. Sagen Sie sich und denen, die Sie begleiten: Angst zu haben, ist normal. Angst ist nützlich, denn mit Hilfe der Angst vermeiden wir gefährliche Situationen. Wenn jemand jetzt Angst hat, zum Fußballspiel zu gehen, dann ist das ok. Das muss ja nicht so bleiben, in zwei Wochen kann es anders sein. Wir müssen unsere Ängste ernst nehmen. Jetzt.

Und wir müssen Ängste mitteilen. Erlauben Sie den Menschen, die Sie begleiten, über ihre Ängste zu reden, und erzählen Sie ruhig, dass auch Sie Angst hatten oder haben. Sie sind Vorbild und Sie ermutigen dadurch andere Menschen, ihre Ängste nicht in sich hineinzufressen, sondern mitzuteilen. Das ist wichtig und macht die Ängste kleiner. Denn Ängste mitzuteilen und Gehör zu finden, schafft einen Boden der Solidarität.

Ängste sollten weder versteckt werden noch zu viel Macht erlangen. Unser Gefühlsleben, die Grammatik der Gefühle, erlaubt, dass Gefühle nebeneinander stehen können. Neben der Angst gibt es noch vieles andere. Wir nennen dies das große UND. Betonen Sie das große UND: Wir haben Angst UND wir sind mutig. Wir fürchten uns vor Anschlägen UND wir gehen auf den Weihnachtsmarkt. Wir weinen UND wir lachen. Auch Sie verkörpern für andere Menschen das große UND: Sie haben auch Angst UND Sie verkörpern Sicherheit, Ruhe und Gelassenheit.

Weitere Artikel dieser Serie: Angst und Geborgenheit (Angst 2) >>

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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