Zur Geschichte der Trauma-Leugnung, Teil 3: Zwischen den Weltkriegen: die „Kriegszitterer“

 

 

Nach dem ersten Weltkrieg haben nach vorsichtigen Schätzungen über 600 000 Menschen alleine unter den deutschen Soldaten Trauma-Störungen erlitten. Dies wurde damals als Kriegsneurose oder Schell-Schock, manchmal auch als Zweckneurose bezeichnet. Letzteres, weil unterstellt wurde, dass die betroffenen Menschen simuliert haben mit dem Zweck, vom Kriegsdienst freigestellt zu werden oder später nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Renten zu erhalten. Umgangssprachlich wurden die Menschen meist als „Kriegszitterer“ bezeichnet.

In Großbritannien haben damalige Schätzungen ergeben, dass 7-10% der Offiziere und 3-4% niedrigerer Ränge von solchen Störungen betroffen waren. Der niedrigere Anteil einfacher Soldaten kommt dadurch zustande, dass es den britischen Armeeärzten lange Zeit verboten war, die Diagnose „Schell-Schock“ bei Soldaten unterer Reihen zu stellen.

Ab Juni 1917, also ca. ein Jahr vor Kriegsende, durfte die Diagnose Schell-Schock gar nicht mehr gestellt werden. An ihre Stelle trat die Bemerkung „NYD(N)“ für „Not Yet Diagnosed (?Nervousness)“ (alles nach Ruggenberg 2007 und Maercker 2013).

In Deutschland wie in anderen Teilen Europas wurde die These vertreten, dass die stärksten und besten Menschen im Krieg geopfert wurden, während die „körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge“ überlebt hätten und dann klagen würden. Darüber hinaus wurden die posttraumatischen Wirkungen einer Schwäche zugeschrieben, die schon vorher bestanden hätte. „Es ist kein Zufall, dass mit zunehmender Kriegserschöpfung die Differentialdiagnose zwischen Hysterie und Simulation immer fließender wurde, und dass sich die Beobachter mehrten, die allmählich keine Hysterie, sondern nur mehr bewusste Flucht in das Krankhafte gelten lassen wollten. Es kam gewissermaßen zu einer willkürlichen Benutzung hysterischer Ausdrucksformen durch Gesunde.“ (Bonhöfer 1922, Seite 30).

Als therapeutische Behandlung wurden Folterinstrumente eingesetzt, deren Wirkung entsetzlicher sein sollte als der Fronteinsatz, damit die Betroffenen deshalb in den Krieg zurückkehren sollten. „Es gab elektrische Stromstöße als Überrumpelungsmaßnahmen, stundenlange Anwendung schmerzhaftester elektrischer Sinusströme – die ‚Kaufmann-Kur‘ – die Nötigung, Erbrochenes wieder herunterzuschlucken, Röntgenbestrahlungen in Dunkelkammern, wochenlange Isolationsfoltern, die Provokation von Erstickungstodesangst durch Kehlkopfsonden oder Kugeln, herzlos inszenierte Scheinoperationen in Äthernarkose und vieles anderes mehr“ (Maercker, Seite 8).

Folgen von Traumata wurden nicht nur geleugnet, sondern die Opfer wurden verhöhnt und als Lügner und als Feinde behandelt. 1926 entschied das Reichsversicherungsamt grundsätzlich und dauerhaft, dass seelische Schäden ohne nachweisebare organische Ursache nicht entschädigungspflichtig seien. Dies galt auch nach dem Ende des 2. Weltkriegs.

 

Lit. in:

Maercker, A. (2013): Posttraumatische Belastungsstörungen. Berlin, Heidelberg

Seidler, G.; Freyberger, H.; Maercker, A. (2015): Handbuch der Psychotraumatoloige. Stuttgart

Weitere Artikel dieser Serie: << Zur Geschichte der Trauma-Leugnung, Teil 2: Vom „Eisenbahn-Rücken“ bis zur „traumatischen Neurose“

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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