Zeiterleben und Trauma, Teil 7: Immer zu spät kommen

 

 

 

 

 

Ellen B. gab sich große Mühe, doch sie kam immer zu spät. Sie stellte sich morgens den Wecker rechtzeitig. Sie ging eine halbe Stunde früher aus dem Haus. Sie unternahm alles Mögliche, doch immer wieder kam sie zu spät. Insbesondere wenn sie Menschen traf, die ihr besonders wichtig waren, verspätete sie sich regelmäßig. Das galt für das Vorstellungsgespräch genauso wie für die Begegnung mit einer ihr lieben Freundin. Es war verflixt. Sie haderte mit sich und schimpfte sich aus. Doch je mehr sie sich Druck machte, desto schlimmer wurde es.

Eine Veränderung trat erst ein, als ihr in der Therapie deutlich wurde, dass dieses Verhalten im Zusammenhang mit einer früheren traumatischen Erfahrung stand. Ellen B. war als junges Mädchen vergewaltigt worden. In der Zeit danach, so erzählte sie, war ihr gesamtes Zeitgefüge auseinandergeraten: „Ich wusste nicht mehr, ob es morgens oder abends ist. Ich vergaß die Zeit. Ich hatte völliges Chaos. Ich war in den Abgrund gefallen. Alles war aus den Fugen geraten. Auch meine Zeit … Vielleicht mag dies auch damit zusammenhängen, dass ich mir damals oft sagte: Ach wärest du doch nicht zu dieser Zeit an diesem Ort gewesen, wo die Tat geschah. Das weiß ich nicht genau. Aber im Wesentlichen glaube ich, dass mein jetziges Zuspätkommen mit diesem Aus-den-Fugen-Geraten meiner Zeit zusammenhängt.“

Es lohnt sich, solchen Zusammenhängen nachzugehen. Als Ellen B. diesen Zusammenhang erkannte, konnte sie liebevoller mit sich umgehen, verringerte den Druck, sodass es ihr allmählich immer besser gelang, auch dort wo es ihr wichtig war, halbwegs pünktlich die vereinbarten Zeiten einzuhalten.

Weitere Artikel dieser Serie: << Zeiterleben Trauma, Teil 6: Zeitliche Dissoziationen

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

2 Kommentare zu “Zeiterleben und Trauma, Teil 7: Immer zu spät kommen

  1. Was kann man denn machen wenn da kein traumatisches Erlebnis war?
    Zumindest nicht das ich mich erinnern könnte. Aber mir geht es dennoch sehr ähnlich.
    Ich vergraule alle mir wichtigen Menschen damit in meinem Leben und setze meinen Beruf aufs Spiel.

    Ich verstehen es überhaupt nicht und bin ziemlich verzweifelt.
    Leider bin ich besonders vorm los gehen, recht schnell abgelenkt und verzettel mich dann.
    Vor kurzem wurde bei mir eine ADHS Diagnose gestellt. Ich bin wirklich immer abgelenkt wenn ich dringend pünktlich sein möchte\muss.
    Habe das Gefühl, dass ich manchmal auch denke nicht zu genügen,da ich dann oft noch Dinge im Kopf habe kurz vorm los kommen, die wichtig wären fürs gelingen der Verabredung, des Arbeitsbeginns, etc. ..das kann sich auch aufs Äußere beziehen…

    Vielen Dank fürs lesen und evtl. einen Ratschlag.

    Herzliche Grüße, Minna

    • Wer ein Trauma erlebt, beschreibt die Folgen oft: Ich bin aus der Zeit gefallen. Das kann zu dem führen, was Sie beschreiben. Ob das zutrifft, kann ich natürlich aus der Ferne nicht sagen.
      Der Kern von ADHS besteht nach meinen Erfahrungen darin, dass die betroffenen Menschen sehr dünnhäutig sind. Wenn zu wenig gefiltert werden kann, prasselt alles auf einen ein und man kann die Orientierung, das Gerichtetsein verlieren. All das kann verschiedene Gründe haben. Es kann durch Traumata verstärkt werden.
      Wenn Menschen sich an kein traumatisches Ereignis erinnern können, frage ich oft, ob vielleicht ein Elternteil oder Großeltern traumatisierte waren. Das kann weitergegeben werden, gerade wenn nicht darüber gesprochen wurde. Es entstehen dann Traumasymptome, ohne zu wissen, warum. Vielleicht ist das eine Spur, der Sie nachgehen könnten.
      Rat habe ich aus der Ferne nicht, nur die genannten Hinweise. Ich habe nur immer wieder beobachtet, dass man aus dem, was Sie beschreiben, nicht alleine herauskommt. Egal, was bei Ihnen die Quellen sind für das, woran Sie leiden, es waren Erfahrungen mit anderen Menschen beteiligt. Bei der Heilung des Leidens braucht es Unterstützung und neue Erfahrungen mit anderen Menschen. Im Dialog kann man herausfinden, was zu viel ist und was fehlt oder zu kurz kommt; wo es wichtig ist, heranzugehen, und wo es gilt, sich zu schützen und loszulassen. Den inneren Kern zu stärken, steht an. Von Ihrem inneren Kern aus können Sie entscheiden, was Ihnen gerade wichtig ist und was nicht. Der innere Kern ist der Ausgangspunkt der Orientierung, des Gerichtetseins und auch der zeitlichen Orientierung. Den inneren Kern stärken wir Menschen, in dem wir unsere Würde als Kompass nehmen: Was braucht meine Würde in diesem Moment? Wie kann ih nicht jetzt respektieren?
      Dieser Weg braucht Zeit und Geduld, aber Sie können ihn gehen. Dabei wünsche ich Ihnen viel Erfolg und schicke Ihnen beste Wünsche
      Udo Baer

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.