Zeiterleben und Trauma, Teil 5: Das Warten

Das Warten hat so viele Aspekte, dass es angebracht wäre, eine „Phänomenologie des Wartens“ zu verfassen. Wir können zum Beispiel gelassen warten oder äußerst unruhig bzw. angespannt. Wir erwarten Positives oder Negatives oder beides gleichzeitig. Wir können erwarten und abwarten, sogar beim Besuch von Gästen aufwarten. Hier möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, welche Auswirkungen traumatische Erfahrungen auf das Warten haben können.

Nehmen wir ein Beispiel. Kinder erwarten den Weihnachtsmann. Auch wenn sie nicht an den Weihnachtsmann glauben, dann steigt die Spannung, die Aufregung erhöht sich. Manche Kinder werden sogar fiebrig, bis die Bescherung, die Verteilung der Geschenke ansteht. Alles, was bis dahin passiert, das Essen, die Musik, die Gesellschaftsspiele, wird als notwendiges Übel hingenommen oder als unerträglich erlebt, weil es scheinbar die Wartezeit in die Länge zieht.

Bei traumatisierten Kindern und Erwachsenen haben wir zwei Phänomene beobachtet. Manchen Menschen ist es völlig unmöglich zu warten. Sie halten die Spannung, die Erregung nicht aus. Egal, ob sie auf das Ergebnis der Krebs-Untersuchung warten oder auf die Weihnachtsgeschenke. Durch die traumatischen Erfahrungen haben sie soviel an Spannung erlebt, dass die Spannung selbst schon ein Trigger wird, der sie in das Trauma-Erleben wieder hineinwirft und den Schrecken wieder lebendig werden lässt. Andere Menschen mit ähnlichen Erfahrungen warten mehr oder weniger geduldig. Wenn dann der Zeitpunkt eintritt, in dem Positives ansteht, nämlich dass sie ein Geschenk erhalten, dann können sie sich gar nicht mehr freuen. Sie haben oft genug gewartet und sind enttäuscht worden, weil immer wieder Negatives auf sie einprasselte oder weil die erwartete Unterstützung und Hilfe ausblieb.

Ein anderes Beispiel, das Sie sicherlich kennen. Sie wollen mit dem Zug fahren und warten am Bahnsteig. Eine Lautsprecherdurchsage: Der Zug verspätet sich um zehn Minuten. Sie werden unruhig und nun beginnt bei manchen in ihrer Imagination ein Schreckensszenario: Was ist, wenn der Zug noch später eintrifft? Dann verpasse ich den Anschlusszug. Dann komme ich zu spät zu meinem Termin. Vielleicht komme ich gar nicht mehr an meinem Zielort an und muss die Nacht im Zug oder am Bahnhof verbringen …

Menschen mit traumatischen Erfahrungen neigen eher als andere dazu, so unsere Erfahrung, sich solche Schreckensszenarien auszumalen. Der Anlass ist immer das Warten und Erwarten. Sie sind es aus ihrer Trauma-Geschichte gewohnt, dass sie Schlimmes zu erwarten hatten. Wenn nun in einer halbwegs neutralen Wartesituation wie auf dem Bahnsteig eine Irritation eintritt, eine Störung, dann kann dies der Trigger dafür sein, dass das gesamte Trauma-Szenario in der einen oder anderen Form lebendig wird. Dieses Trauma-Szenario muss sich nicht auf konkrete traumatische Ereignisse beziehen. Es kann auch andere innere Filme bewirken, die Schlimmes beinhalten. Selbst ein Zugverspätung kann der Startschuss für einen Horrorfilm werden.

Weitere Artikel dieser Serie: << Trauma und Zeiterleben Teil 4: ZeitkollapsZeiterleben Trauma, Teil 6: Zeitliche Dissoziationen >>

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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