Würde und Trauma 4: Entwürdigung in der Traumabegleitung

Wir wissen, dass die meisten Menschen, die Opfer traumatisierender Gewalt unterstützen und begleiten, dies sehr engagiert tun. Sie gehen oft an ihre persönlichen Grenzen und manchmal darüber hinaus. Und doch gibt es versteckte Formen entwürdigenden Verhaltens in der Begleitung traumatisierter Menschen, die zwar oft aus Hilflosigkeit, Verunsicherung und mangelndem Wissen heraus entstehen, wogegen auch wir nicht gefeit sind, aber nichtsdesto-trotz besonderer Beachtung bedürfen, weil sie traumatisierte Menschen verletzen und entwürdigen.

Die erste Form ist das Verniedlichen oder Bagatellisieren. Wenn eine Frau von einer Vergewaltigung erzählt oder ein junger Mann berichtet, dass er zusammengeschlagen wurde, besteht wohl kaum die Gefahr, dass die Tat und der daraus erwachsene Schrecken verniedlicht oder bagatellisiert werden. Doch etwas anderes ist es, wenn Menschen, durch Trigger ausgelöst, ein Trauma neu erfahren und sie ein Schreckenserleben überfällt, so als würden sie die traumatische Situation jetzt in der Gegenwart erleben. Da ist zum Beispiel eine alte Frau in einem Altenheim und sie hört eine plötzlich knallende Tür und erschrickt und möchte weglaufen. Für sie hört sich der Ton der knallenden Tür an wie ein Gewehrschuss. Die Mitarbeiterin versucht, die Angst dieser Frau wegzuerklären und ihren Schrecken zu verniedlichen: „Sie brauchen sich doch nicht zu erschrecken. Das ist doch nur eine Tür. Das ist doch nicht so schlimm …“ Eine alltägliche, unbedachte und gut gemeinte und keineswegs böswillige Reaktion. Solche und ähnliche Beispiele gibt es zuhauf. Das Ergebnis dieses Verhaltens ist, dass die Frau sich nicht ernst genommen fühlt in ihrem Gefühl, in ihrem Traumaerleben. Sie hat Angst. Sie erinnert sich nicht an das traumatische Kriegsereignis, so wie man sich an ein Datum erinnert. Ihr Leib erinnert sich. Sie erlebt es so, als wäre es jetzt. Also müssen als erstes, vor allem und wichtiger als alle Erklärungen, die Angst und der Schrecken der Frau ernst genommen werden. Die Mitarbeiterin würde sie also am besten in den Arm oder an die Hand nehmen und trösten, begleitet von Sätzen wie: „Ich bin da. Sie sind nicht allein. Ich passe auf Sie auf …“ Und danach können dann vielleicht noch die Sätze beruhigen, die auf die knallende Tür hinweisen …

Eine Variante des Bagatellisierens ist das Abwiegeln von Schreckenserlebnissen mit dem Satz: „Sie sind doch jetzt erwachsen.“ Da gerät zum Beispiel eine 30jährige Frau während einer Therapiestunde plötzlich in Panik. Der Therapeutin ist bekannt, dass diese Reaktion mit einem früheren traumatischen Erleben zu tun haben könnte. Sie sucht mit ihrer Klientin gemeinsam nach dem Trigger, dem Auslöser für diese panische Reaktion. Die gemeinsame Suche tut der Klientin gut. Sie fühlt sich ernst genommen. Doch gleich darauf lassen die Sätze der Therapeutin sie verstummen: „Wir haben doch jetzt schon so viel zu den Schrecken Ihrer Kindheit gearbeitet. Sie müssten doch jetzt wissen, dass Sie nicht mehr klein sind, dass Sie jetzt erwachsen sind und dass Ihnen nichts passieren kann.“ Hätte die Therapeutin zunächst einmal anerkannt und ausgedrückt, wie schlimm es für die Klientin ist, wieder in das alte Erleben „fallen“ zu müssen, hätte sie sie dann darin bestärkt, dass sie jetzt der Bedrohung nicht mehr ausgeliefert ist, dann hätten ähnliche Worte in einem anderen Tonfall eine tröstliche Wirkung haben können. So sind die Verweise auf das Erwachsen-Sein ein Vorwurf, etwas falsch zu machen oder falsch zu sein, erst recht, wenn Formulierungen gebraucht werden wie: „Sie müssten doch jetzt wissen …“

Eine andere Form ist das Neutralisieren. Hier wird besonders betont neutral und objektiv mit den im Trauma wurzelnden Gefühlen umgegangen. Ein Beispiel aus dem Krankenhausalltag: Ein Mann liegt erkrankt im Bett. Eine Schwester und ein Pfleger betreten das Zimmer und versuchen, einen Katheter zu legen. Der Mann hat früher sexuelle Gewalt erfahren. Für ihn ist die Berührung durch einen männlichen Pfleger (vielleicht auch durch die weibliche Pflegerin) eine Retraumatisierung, die den Schrecken des Traumaerlebens wieder belebt. Er beginnt zu schimpfen und zu schreien. Die Pflegerin hält ihn fest und erklärt sachlich, seine aggressive Angst ignorierend: „Das ist doch nur ein Katheter. Das tut doch nicht weh. Das muss sein, um die Operation vorzubereiten.“ Als die Angst nicht nachlässt und er sich weiter wehrt, wird die Pflegerin ärgerlich und der Pfleger ruft unduldsam und gekränkt: „Stellen Sie sich doch nicht so an!“ Schließlich rufen die Pflegekräfte den Arzt, um den Patienten durch eine Beruhigungsspritze zu „neutralisieren“, also ruhig zu stellen.

Hier wäre ein anderes Verhalten angebracht, das die traumatischen Erfahrungen des Mannes würdigt. Das ist nur dann möglich, wenn die Pflegenden darin kompetent sind, einen Zusammenhang zwischen den Reaktionen des Mannes und möglichen traumatischen Erfahrungen in Betracht zu ziehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Als erstes müsste dem Mann erklärt werden, was mit ihm passieren wird und welchen Sinn das hat. Zweitens müsste, wenn gemerkt wird, dass z. B. der männliche Pfleger besondere Ängste hervorruft, die Aktivität durch eine andere, vielleicht die weibliche Pflegekraft vorgenommen werden. Bevor dies nicht gelingen kann, muss in jedem Fall die Aktivität unterbrochen und zunächst einmal die aggressive Angst ernst genommen und somit gewürdigt werden. Über die Angst und die daraus resultierende Aggressivität hinwegzugehen und den Mann zu „neutralisieren“ und ihn ruhig zu stellen, ist entwürdigend.

Wir begegnen oft einer dritten Form der entwürdigenden Traumabegleitung, in dem Menschen unpassenderweise bei jeder Gelegenheit empfohlen wird, das Traumaerleben „einzusperren“. Wenn traumatisierte Menschen überflutet werden von Bilder der traumatischen Ereignisse und den damit verbundenen Gefühlen, dann ist es sinnvoll, mit ihnen Distanzierungstechniken zu üben, um diese Überflutungen einzugrenzen. Dazu können unter anderem Imaginationen helfen, das Traumaerleben in einen Tresor zu sperren, einen Film anzuhalten und dergleichen mehr. Wir hören oft von Opfern, insbesondere von denen, die sexuelle Gewalt erleben mussten, dass ihnen in Kliniken und Praxen generell verboten wird, über das Trauma zu reden und ausschließlich oder vorwiegend Distanzierungstechniken mit ihnen eingeübt werden. Wir sagen, dass beide Aspekte der traumatisierten Menschen gewürdigt werden müssen: Das Bedürfnis, die retraumatisierenden Gefühle und Bilder zu bändigen (wobei Distanzierungstechniken unterstützen können) und gleichzeitig das Bedürfnis, diese Erfahrungen mit anderen zu teilen und somit ein wenig „loszuwerden“. Wer nur „einsperrt“, tut Menschen letzten Endes Gewalt an und entwürdigt. Die Menschen gehen dann mit ihrer Not ins Leere, so wie sie zumeist in der unmittelbaren Zeit nach dem Traumaereignis fast alle mit ihrem Schrecken allein blieben. Darin – und nicht in der Würdigung des Traumaerlebens im Hier und Jetzt – besteht die Gefahr der Retraumatisierung.

Eine vierte Form der Entwürdigung in der Traumabegleitung besteht darin, sich der eigenen Hilfestellung im Moment der akuten Not eines Menschen zu entziehen, mit dem Verweis, dass professionelle Unterstützung notwendig ist. Dies ist eine Form des Abschiebens. Es ist selbstverständlich richtig und notwendig, dass Opfer (sexueller) Gewalt professioneller Unterstützung bedürfen, wenn diese notwendig ist und sie dies wollen. Ohne professionelle Ausbildung keine Traumatherapie – diese Haltung teilen wir. Doch das heißt nicht, dass Menschen in ihrem traumatischen Erleben und Wiedererleben allein gelassen werden müssen, nur weil sie keine ausgebildeten Traumatherapeut/innen sind. Wenn der Schrecken wiederkommt, wenn die Angst Menschen erfasst, wenn bestimmt Sinneswahrnehmungen das Traumaerleben antriggern, dann dürfen die Begleitenden diese Menschen nicht allein lassen und sagen: „Ich kann jetzt nichts tun. Ich darf jetzt nichts tun. Da dürfen nur ‚Profis’ ran.“ Was jeder Menschen tun kann, ist: die betroffenen Opfer der Gewalt, wann immer sie sein mag, nicht allein zu lassen, ihnen beizustehen, ihnen Trost zuzusprechen, Ihnen zu sagen „Sie sind nicht allein. Ich passe auf Sie auf“, und wenn sie wollen, ihnen die Hand zu halten, und dergleichen mehr.

Entwürdigende Verhaltensweisen in der Begleitung traumatisierter Menschen, wie wir sie beschrieben haben, sind uns so (und manchmal noch krasser) berichtet worden. Wir haben sie von ihnen gehört und gelernt, wie sehr solche Verhaltensweisen verletzen und entwürdigen können. Für viele setzen sie die Entwürdigung der Zeit unmittelbar nach dem Trauma fort, indem sich die Menschen allein gelassen fühlen und allein gelassen werden, indem sie in ihrem Leid, in ihrer Not, in ihren Gefühlen und ihrem Verhalten nicht ernst genommen und gewürdigt werden.

Diese Formen der Entwürdigung verletzen unser persönliches und professionelles Selbstverständnis. Die Auflistung dient neben der Verteidigung der Würde und der Würdigung traumatisierter Menschen auch unserer Aufrichtung in Würde.

 

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

3 Kommentare zu “Würde und Trauma 4: Entwürdigung in der Traumabegleitung

  1. Sehr schade, dass es in diesem Blog keine Like-Funktion gibt.
    Ich bin vorgestern auf Sie gestoßen und bin dabei, den gesamten Blog zu lesen.
    Es ist so dermaßen wohltuend, tröstend, hoffnungschaffend, erleichternd,… merken zu dürfen, dass es wohl DOCH Menschen gibt, welche WISSEN – oder besser sogar FÜHLEN – können, wonach es in mir (und wohl vielen Gewaltopfern) schreit.

    Was Sie hier beschreiben habe ich erlebt bei renomierten, großen Hilfsvereinen und jenen, die sich großspurig Hilfe für Gewaltopfer auf die Fahne schreiben.

    Ich sei „zu komplex“, „zu groß“, „zu kompliziert“, „zu umfassend“.
    Sie hätten zu wenig Ahnung; zu wenig Wissen; zu wenig Wasauchimmer.

    Als Mensch, welcher seit dem 6. Lebensjahr Hilfe sucht und bis 45 nie welche gefunden hat – hierdurch also gut 40 Jahre in Gewalt gelebt hat; besser „existiert“, wünschte ich mir, dass ihre Erfahrungen zur Pflichtlektüre für alle Helfer würde.
    Noch immer habe ich, außer meiner Therapeutin vor 2,5 Jahren, keinen Menschen gefunden, der mir helfen will.
    Immerzu bin ich „zuviel“.
    Und das in einem Land, das behauptet, ein großes Helfernetz zu haben.

    Ein Helfernetz, das leider ganz offensichtlich nur den „kleinen“, „unkomplizierten“ und „einfachen“ hilft.
    Danke, dass es Sie gibt.

  2. Sehr geehrter Herr Baer,
    ich finde Ihre Beiträge zum Thema „Würde und Trauma“ sehr interessant. Einmal aus persönlichen Gründen und einmal, weil ich mich zurzeit in einer Dissertation um das Thema „Demütigendes und Entwürdigendes Verhalten im Straßenverkehr“ beschäftige.
    Ich gehe hier davon aus, dass es z. B. in Deutschland ein kollektives Kriegs-Trauma gibt, und dass die Mitglieder dieses Traumakollektivs die verschiedenen Trauma-Trigger im Straßenverkehr nutzen, um sich durchzusetzen oder zu behaupten. Die Folge ist dann Krieg auf den Straßen.

    Aus diesem Grund die Frage an Sie, ob Sie selbst Wissen um dieses Thema haben oder Kollegen kennen, die Sie mir hier empfehlen mögen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Ralph Saathoff

    • Zum Thema kollektives Trauma und Straßenverkehr kenne ich mich nicht aus. In dem Buch über transgenerative Traumaweitergabe von meiner Frau und mir findet sich vieles darüber, dass und wie Traumata an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Auch Literatur.
      Viel Erfolg mit Ihrer Arbeit
      Udo Baer

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