Würde und Trauma 2: Traumatisierende Gewalt entwürdigt

Die häufigsten Erfahrungen, die in Traumata münden, sind Gewalterfahrungen. Dazu zählen auch alle Formen sexueller Gewalt, die in erster Linie Gewalt sind und von den Opfern als Gewalt erfahren werden, die sie in ihrer Identität, auch in ihrer geschlechtlichen Identität, verletzt. Die „vier Monster der Entwürdigung“, von denen wir in der Kreativen Leibtherapie reden, gelten für die Menschen mit Erfahrungen sexueller Gewalt in besonderem Maße:

Das erste Monster ist die Beschämung. Die Scham ist ein Gefühl, das nützlich ist, weil es uns Menschen darauf aufmerksam macht, wenn die Grenzen unserer Intimität verletzt werden. Wenn wir etwas von uns preisgeben wollen, was wir doch lieber in unserem Intimen Raum behalten wollten oder sollten, melden sich Schamgefühle, wird es peinlich. (Das Wort „Pein/Pain“ wurde aus dem Englischen übernommen und hat dort und im Deutschen die Bedeutung „Schmerz“ oder „Qual“.) Zu dem Schützenswerten gehören für die meisten Menschen ihre Sexualität und ihre sexuellen Erfahrungen. Aber auch geheime Gedanken, Fehler und Schwächen und vieles andere mehr und können und sollen intim bleiben und dabei helfen Schamgefühle.

Doch in Gewalterfahrungen und insbesondere in sexuellen Gewalterfahrungen werden die Grenzen des Intimen Raums nicht geachtet, sondern gewalttätig durchbrochen. Dies beinhaltet eine massive Beschämung. Diese Beschämung verletzt die Würde der Gewaltopfer.

Das zweite Monster ist die Erniedrigung. Erfahrungen der Demütigung und Erniedrigung, der gewalttätigen oder perfiden Unterdrückung eines Menschen lassen das Nein der Opfer ungehört, unerhört und ungeachtet. Die Täter/innen behandeln Opfer sexueller Gewalt als Objekt behandelt und erniedrigen und missachten die Menschen als Subjekt, das ein Recht auf ein Nein und Ja hat.

Das dritte Monster ist die Gewalt selbst. Die Menschen werden verletzt, körperlich und seelisch, diese Wunden bleiben lange offen und lebendig. Viele Opfer fühlen sich in einen „Abgrund“ gestoßen oder „aus der Welt geworfen“. Die (sexuelle) Gewalterfahrung ist, auch wenn sie nur einmal passiert ist, nicht nur ein einmaliger Akt der Erniedrigung, sondern wirkt nachhaltig über einen langen Zeitraum.

Das vierte Monster der Entwürdigung besteht darin, dass Menschen ins Leere gehen. Wenn Menschen sich anlehnen wollen und da ist niemand, der ihnen Halt gibt, wenn Menschen etwas sagen, aber nicht gehört werden, wenn der Blick der Menschen nicht erwidert wird oder sie ins Leere greifen, dann ist das eine Erfahrung emotionaler und sozialer Leere, die schmerzt. Viele Opfer von (sexueller) Gewalt, die traumatisiert wurden, hatten in der Zeit nach dem traumatisierenden Ereignis eine solche Leere erfahren. Sie wurden nicht gehört oder nicht gesehen und wenn sie sich äußern konnten, nicht ernst genommen. Sie gingen mit ihrem Bedürfnis nach Trost und Halt, nach Parteilichkeit und Verständnis ins Leere. Das wird von nahezu allen als entwürdigende Verletzung erlebt. „Am schlimmsten ist das Alleinsein danach“, so bezeichnete es eine Frau, die von Gabriele Frick-Baer zu den Erfahrungen in der Zeit nach dem sexuellen Gewaltereignis befragt wurde (dies ist auch der Titel ihrer Studie zu „der Zeit danach“). Wenn Menschen über einen längeren Zeitraum und wiederholt die Erfahrung machen, dass sie ins Leere gehen, oder wenn sie diese Erfahrung machen, wie es nach einer traumatisierenden Gewalterfahrung der Fall ist, dann führt dies oft dazu, dass sich in den Menschen ein entwürdigtes Selbstwertgefühl festsetzt. „Wer bin ich, dass ich gehört werden könnte?“ „Wer bin ich, dass ich es Wert sein könnte, ein Recht auf Hilfe, Trost, Solidarität und Halt zu haben?“ Solche Fragen und damit auch Selbsteinschätzungen tauchen auf und nisten sich im Selbstverständnis vieler Menschen ein.

Diese vier Monster der Entwürdigung begegnen vielen, die Opfer von Gewalterfahrungen geworden sind, den meisten Menschen, die traumatisierende Erfahrungen gemacht haben. Sie begegnen ihnen im Verhalten einzelner Menschen und sie begegnen ihnen oft in der gesellschaftlichen Haltung.

In der Öffentlichkeit und in den gesellschaftlichen Debatten hat sich in den letzten Jahren viel bewegt, und die Aufmerksamkeit und das Verständnis für Opfer von (sexueller) Gewalt und andere traumatisierte Menschen sind gewachsen. Doch so positiv diese Entwicklung ist, so deutlich muss festgestellt werden, dass sie noch bei weitem nicht ausreichend ist. Noch immer gibt es abschätzende Blicke, sobald ein Opfer sexueller Vergewaltigung dieses zur Anzeige bringt („Die ist doch bestimmt selbst Schuld.“) Noch immer werden Taten körperlicher Gewalt weniger verfolgt und geringer bestraft als Finanzdelikte; noch immer bleiben die meisten Taten (sexueller) Gewalt, insbesondere an Kindern, unentdeckt und unbestraft.

Entwürdigende Erfahrungen machen traumatisierte Menschen im individuellen Kontakt zu anderen Personen wie auch im gesellschaftlichen Kontext.

 

Gabriele Frick-Baer, Udo Baer

About Udo Baer und Gabriele Frick-Baer

Udo Baer Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Geschäftsführer und Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor Gabriele Frick-Baer Dr. phil. (Erziehungswissenschaften), Diplom-Pädagogin, Kreative Leibtherapeutin AKL, Vorstandsmitglied der Stiftung Würde und wissenschaftliche Leitung der Kreativen Traumahilfe der Stiftung Würde, Kreative Traumatherapeutin, Autorin

Ein Kommentar zu “Würde und Trauma 2: Traumatisierende Gewalt entwürdigt

  1. Wie komme ich in meine Erinnerung, wenn ein traumatisiertes Ereignis stattgefunden hat, ich es aber nicht benennen kann, weil es nicht in meiner Erinnerung ist. Ich habe es vermutlich verdrängt, weil es zu belastend war. Jetzt aber prodelt es in mir und möchte angesehen werden. Nur wie schaffe ich das?
    Danke für Ihre Nachricht
    Ulrike

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