Wie Corona alte Menschen retraumatisieren kann

Zwei Drittel aller Menschen in Deutschland, die älter als 72 Jahre sind, haben in der Zeit des 2. Weltkriegs und unmittelbar danach traumatische Erfahrungen machen müssen. Bei vielen von ihnen werden Traumaerfahrungen und Traumafolgen durch die Erfahrungen, die sie in der Corona-Krisen machen müssen, wieder lebendig. Das scheint kaum bekannt zu sein und wird jedenfalls viel zu wenig berücksichtigt. Deswegen werde ich hier dazu einige Informationen und Erfahrungen zusammenstellen.

  • Über 12 Millionen Menschen wurden im 2. Weltkrieg und danach vertrieben oder sind vor den Kampfhandlungen geflüchtet. Schon im nationalsozialistischen Regime wurde eingeführt, dass diese Menschen in Quarantäne bleiben mussten. Das galt weiter nach Kriegsende. Bis hin zu den Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion war Quarantäne weitgehend Pflicht. Wenn alte Mensch schon das Wort Quarantäne hören oder selbst davon betroffen sind, kann das alte traumatische Erinnerungen mobilisieren.
  • In den Kriegs- und Nachkriegszeiten waren die meisten Familien auseinander gerissen. Die Väter waren Soldaten oder in Kriegsgefangenschaft, die Kinder in der Kinderlandverschickung als Schutz vor den Bomben, Mütter oft in Arbeitseinsätzen als Ersatz für die Männer oder in der Rüstungsindustrie. Familienmitglieder nicht sehen zu können, erinnert viele alte Menschen an die Kriegszeiten, wirkt bedrohlich und macht Angst. Das gilt vor allem, wenn sie durch demenzielle Erkrankungen Erklärungen nicht verstehen können.
  • Traumatische Erfahrungen rufen Stress hervor. Wenn sich durch die Corona-Bedrohung der Stress erhöht oder gar eine Atmosphäre des Stresses in der Familie oder in einer Einrichtung entsteht, kann dies traumatische Erfahrungen triggern, also an sie emotional erinnern und zu Unruhe oder Aggressivität führen. Oder es kann zu emotionaler Erstarrung führen, dass sich z. B. in misstrauischem Rückzug oder „kaltem“ Abwehrverhalten gegenüber wohlwollenden Menschen äußert, und Angehörige und Pflegende der nachfolgenden Generationen auch mit anderen Bewältigungsstrategien wie „Abschütteln“ verunsichern und kränken kann.
  • Viele Gefühle wie Einsamkeit, Trauer, Angst oder Sehnsucht konnten in Kriegs- und Nachkriegszeiten nicht gelebt werden. Wenn man die alten Menschen nun traurig werden) weil sie sowohl in ihrer Lebensumwelt als auch über Fernsehbilder mitbekommen, dass andere alte Menschen oder Pflegende versterben, wenn man Sehnsucht nach Kindern und Enkeln hat, wenn die Angst vor einer Ansteckung steigt oder man sie bei anderen spürt, wenn man sich einsam fühlt, dann kann dies – bewusst oder unbewusst – an das Traumaerleben erinnern.
  • Wer beschossen, bombardiert, vertrieben oder vergewaltigt wurde, oder wer Zeuge war, wie anderen Menschen Schreckliches geschehen ist, war hilflos und fühlte sich ohnmächtig und ausgeliefert. Gegenüber dem Virus COVID19 sind wir Menschen auch hilflos und ohnmächtig, zumindest noch. Diese in der Vergangenheit liegenden ähnlichen Erfahrungen können in der gegenwärtigen Situation ähnliche Folgen hervorrufen.

Was sind die Folgen? Traumaerleben beunruhigt, alte Menschen werden oft unruhig. Manche erstarren, werden passiv und ziehen sich zurück. Andere werden aggressiv, ohne dass sie oder ihre Angehörigen oder Pflegenden wissen, warum.

Was hilft? Zunächst ist es wesentlich, darum zu wissen, dass Corona-Erfahrungen auch Traumata triggern können. Wir können dann die alten Menschen besser verstehen und fühlen uns durch ihr Verhalten nicht nur persönlich angegriffen. Und dann hilft alles, was bei Traumafolgen hilft: Trösten, nicht allein lassen, sondern, so gut es geht, den alten Menschen an der Seite stehen, sinnliche und kreative Symbole schaffen und vieles andere mehr. Die größte Hilfe – ich betone es noch einmal – besteht darin, dass die betroffenen Menschen sich nicht allein gelassen, sondern verstanden und begleitet fühlen. Von mitfühlenden Menschen, die sich und den anderen in dieser „neuen Normalität“ ernstnehmen und würdigen.

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

2 Kommentare zu “Wie Corona alte Menschen retraumatisieren kann

  1. Danke, dass es Sie gibt.
    Nirgendwo findet man Verständnis für ein Verhalten, das auf ein Trauma zurückzuführen ist und im Alter verstärkt sich bemerkbar macht.
    In Ihren Beiträgen finde ich Verständnis und kann mich dann selbst beruhigen und suche nicht ständig vergeblich nach Verständnis. Schnell kommt man in die demente Ecke, das verschlimmert die Situation dann noch. Danke, das es Sie und Ihre Beiträge gibt. Es ist tröstlich.
    Frau Schulte, 73 Jahre alt

    • Ich möchte mich diesem Dank anschließen! Im letzten Jahr war ich in einem Ehrenamt über Monate dem Psycho-Terror einiger ‚Mitstreiter‘ ausgesetzt – mit dem Gefühl, als Opfer von der Institution und den anderen Menschen allein gelassen zu werden, konnte ich erst mit Ihren Texten zum Aufrichten in Würde besser umgehen und den Mut zum Verlassen der Situation finden.

      Die eigene Wahrnehmung gespiegelt und bestätigt zu sehen, sich ernst genommen zu fühlen, hat auch mich sehr getröstet.

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