Verrat überleben, Verratsfolgen bewältigen (1): Das Gefühl ernst nehmen

„Sie hatten mir gesagt: Das Boot ist sicher. Und doch ist es voll gelaufen!“ Der Flüchtling wurde gerade noch gerettet, seine Frau auch. Doch er fühlt sich auch ein Jahr danach noch getäuscht und verraten und ist fassungslos.

Eine deutsche Klientin war als 12jähriges Mädchen von ihrem Onkel vergewaltigt worden. „Ich hatte ihm doch vertraut. Darüber komme ich immer noch nicht hinweg. Nach über 20 Jahren müsste es doch vorbei sein …“ Auch sie fühlt sich verraten. Immer noch und immer wieder.

Sich verraten zu fühlen, ist ein Gefühl, das viele Opfer sexueller und anderer Gewalt begleitet. Die emotionalen Folgen von Verrat sind nach unseren Erfahrungen in der Begleitung traumatisierter Menschen besonders nachhaltig. Das ist wichtig zu wissen, um sich zu verstehen und nicht mit sich zu hadern: „Das muss doch jetzt endlich mal vorbei sein!“ Ja, es muss endlich mal vorbei sein – und nein, es ist leider „normal“, dass die Gefühle, verraten worden zu sein, immer wieder lebendig werden. Die Folgen können darin bestehen, dass traumatisierte Menschen nicht mehr anderen Menschen vertrauen können und dass das Misstrauen überall lauert. Doch auch wenn es ihnen gelungen ist, wieder Vertrauen zu anderen aufzubauen, kann jede kleine Enttäuschung dazu führen, dass das alte Verratsgefühl wieder sein Haupt erhebt.

In dem „Großen Buch der Gefühle“ schrieben wir über den Verrat: „Der Verrat ist eine Handlung (ich verrate jemand oder ich bin verraten worden) und das Gefühl, ein Verräter zu sein (dies betrifft vor allem die Schuldgefühle) und vor allem das Gefühl, verraten worden zu ein. Dieses Gefühl, verraten worden zu sein, ist bei den meisten Menschen sehr intensiv, ein eigenes und eigenartiges Gefühl. Es beinhaltet mehr als Enttäuschung, auch Zorn, manchmal Rachegefühle, vielfach Hilflosigkeit, manchmal auch Fassungslosigkeit. Besonders, wenn Menschen sich verraten fühlen durch Menschen, die man liebt, bleiben die Bitterkeit und ein Gefühl des Verlorenseins. Diese Menschen haben ja auch etwas verloren und in ihrem Erleben bleibt nach der Erfahrung des Verrats eine Leerstelle, die sich schwer wieder füllt.“

Ich werde deshalb in diesem Blog mehrere Beiträge veröffentlichen, die Hinweise geben, wie in Therapie und anderer Begleitung traumatisierter Menschen und für sich selbst mit den Folgen von Verratserfahrungen umgegangen werden kann. An dieser Stelle, in diesem ersten Beitrag ist mir besonders wichtig, zu betonen, dass traumatisierte Menschen darin unterstützt werden müssen, Verrat als solchen zu bezeichnen und das Gefühl, verraten worden zu sein, ernst zu nehmen. Meine Erfahrung ist: Verrat als Verrat zu bezeichnen und die Erfahrungen damit mit anderen zu teilen, ist der erste Schritt der Veränderung.

Weitere Artikel dieser Serie: Verrat überleben, Verratsfolgen bewältigen (2): Der Verlust der Zugehörigkeit und des Eingehaustseins >>

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

2 Kommentare zu “Verrat überleben, Verratsfolgen bewältigen (1): Das Gefühl ernst nehmen

  1. Sehr geehrter Herr Baer,
    ja, der Verrat ist retraumatisierend, besonders wenn er von Personen kommt, die Therapeuten sind und einem Betroffenen noch das letzte bißchen Menschenwürde aberkennen. Mir wurde die Verantwortung für das Handeln von gewalttätigen Menschen auferlegt. Danach gibt es kein Leben mehr.

    • Ja, das ist schlimm. Nein, auch nach solchen Erfahrungen gibt es ein Leben. Denn es gibt andere Menschen. Ich wünsche Ihnen Kraft, Mut und Zuversicht.
      Herzliche Grüße
      Udo Baer

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