Trauma, Schäuble und die Menschenrechte

Viele Menschen, die traumatische Erfahrungen durchleiden mussten, reagieren besonders stark auf die politischen Debatten um die EU und Griechenland, vor allem auf deren Darstellung in den Medien. Sie halten das, was sie als „Verlogenheit“, „Tatsachenverdrehungen“, „Verleumdungen“ bezeichnen, kaum aus. Sie schalten die Fernseher ab und legen die Zeitungen weg, weil sie „es kaum aushalten“ – und doch schauen sie wieder die Nachrichten und lesen die Zeitungen, weil es sie fasziniert.

Warum diese starke emotionale Betroffenheit? Zwei Faktoren kommen (mindestens) zusammen. Beide haben mit Erniedrigung zu tun.

Die erste Form der Erniedrigung kommt als Erhöhung daher. „Merkel spaltet Europa“ und ist die „Eiskönigin“, „Schäuble will den Grexit“ – als ob bei den entscheidenden Verhandlungen mit Griechenland nicht alle EU-Länder außer Frankreich, Italien und Zypern dafür gewesen waren, als ob nicht schließlich alle Regierungschefs dem Ergebnis zugestimmt hätten. Es ist ja bekannt, dass in Politik und Gesellschaft vieles personalisiert wird. Doch diese Zuspitzung der Verantwortlichkeit auf einzelne Personen leugnet weite Teile der Realität. Der Grexit nur auf Herrn Schäuble zu beziehen, blendet zum Beispiel aus, dass nicht nur die Regierungen vieler anderer Länder ihn als Option vertraten, sondern dass auch der ehemalige Finanzminister Vanufakis, der lieber in den Urlaub fuhr, als in entscheidenden Parlamentssitzungen anwesend zu sein, mit Parteifreunden den Grexit durchplante und dafür die Geldmittel des griechischen Zentralbank beschlagnahmen wollte.

In der Erhöhung wird einzelnen Personen eine Macht zugewiesen, die sie gar nicht haben. Der Zweck und heimliche Inhalt dieser Erhöhung ist die Erniedrigung. Die alleinige Machtzuweisung an „Deutschland“, „Merkel“ oder „Schäuble“ erniedrigt all die anderen Länder und deren Regierungen. Und: Je größer der Bock, desto angreifbarer der Sündenbock. Je höher das Denkmal, desto tiefer kann es gestürzt werden. Würden Deutschland und seine Regierung realistisch im europäischen Kontext betrachtet, so müsste man politisch argumentieren und streiten. Personalisierende Erhöhungen erlauben es zu diffamieren.

Und darin liegt die zweite Erniedrigung: in der persönlichen Diffamierung, in der inhumanen, menschenverachtenden Abwertung. Man kann über den Finanzminister Schäuble politisch denken, wie man will, man kann seine EU-Politik positiv bewerten oder negativ – es muss eine Grenze zwischen politischer Auseinandersetzung und persönlicher Entmenschlichung geben. Diese Grenze wurde in den letzten Wochen kontinuierlich überschritten. Da werden in der griechischen Presse (in Zeitungen der Regierungsparteien) sogenannte Karikaturen gezeigt, die den Finanzminister Schäuble als mordenden ISI-Terroristen zeigen. Da sieht man, wie er samt seinem Rollstuhl ein einem Baumast baumelt. Da bezeichnet ihn Frau Wagenknecht als „Taliban“, also als Mörder und Terroristen …

Das überschreitet jede Grenze, das ist Entmenschlichung. Das ist bekannt aus der Propaganda der Nazis und der Kommunisten. Die europäischen Demokratien verpflichten sich den Menschenrechten und diese beruhen darauf, dass die Würde der Menschen respektiert wird. Das sollte, das muss für alle gelten, auch für eine Bundeskanzlerin, auch für einen Finanzminister. Das es dagegen keinen Aufschrei gibt, dass dagegen nicht alle Demokraten, welcher politischen Richtung auch immer, protestieren, ist unbegreiflich.

Für Menschen, die durch traumatisierende Gewalt Erfahrungen von Erniedrigung erleben mussten, sind solche unwidersprochenen Erniedrigung oft kaum aushaltbar.

Nicht nur für sie.

 

Udo Baer

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Ein Kommentar zu “Trauma, Schäuble und die Menschenrechte

  1. Danke für den Beitrag. Er ent-lastet und ermutigt mich wieder genauer hinzuschauen und den Mund aufzumachen, statt mich allem Politischen abzuwenden und zu verstummen.
    Karin B.

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