Trauern: Das Meer der Tränen

„Da ist eine große Trauer in mir, aber die drücke ich weg. Wenn ich anfange, zu weinen, dann höre ich nicht mehr auf, dann werde ich im Meer der Tränen ertrinken.“ So sprechen und so denken viele Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. Meine Haltung ist: Es ist noch niemand im Meer der Tränen ertrunken! Diese Erfahrungen habe ich gemacht in vielen, vielen Jahren. Und die Erfahrungen meiner Kolleg/innen bestätigen dies.

Und doch kann ich die Angst verstehen. Denn erstens ist für Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, die Trauer ein schwieriges Gefühl. Viele können nicht trauern, weil sie noch zu sehr behaftet sind mit dem Ereignis, weil diese traumatische Erfahrung noch zu viel Macht über sie hat. Wenn die Trauer beginnt, beginnt auch der Prozess des Loslassens, denn Trauern ist das Gefühl des Loslassens.

Ich ermutige deshalb immer zum Trauern und sage: „Mit jeder Träne verlässt ein Stück des Kummers unsere Seele.“

Und gleichzeitig – dies als zweiter Hinweis – kann ich die Angst der Menschen verstehen, sich im Trauern zu verlieren und im Meer der Tränen zu ertrinken. Diese Angst gründet in zweierlei. Erstens haben viele Menschen, die Traumata erfahren haben, ihr Maß verloren. Sie wurden maßlos gedemütigt, ihr innerer Kern als Ausgangspunkt dessen, was sie für richtig und für falsch halten, als Ausgangspunkt ihres Maßes, wurde beschädigt. Ihr „Nein“ wurde nicht geachtet.

Diese Maßlosigkeit muss nicht bestehen bleiben. Die Menschen können wieder – mit Unterstützung – ihr Maß gewinnen, doch zunächst einmal sind sie in ihrem Maß verunsichert oder meinen, es ganz verloren zu haben. Deswegen haben sie auch zunächst auch erst einmal kein Maß für ihre Trauer, für ihre Tränen, für ihr Loslassen.

Und zweitens haben die meisten Menschen, die traumatische Erfahrungen erlebt haben, in der Zeit danach eine Einsamkeit und ein Allein-gelassen-Werden gespürt. Vielen fehlte der Trost, vielen fehlte der Halt, die Begegnung, die Unterstützung. Und deswegen können Sie sich nur vorstellen, zumindest viele von ihnen, dass sie in ihrem Trauern alleine sind. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn Menschen alleine trauern, dann kann sich das Gefühl der Maßlosigkeit und des Nie-enden-Wollens einstellen. Wenn sie ihre Trauer teilen, wird der Schmerz halbiert. Wer gemeinsam mit anderen trauert, findet ein gemeinsames Maß, kann Trost finden, so dass die Tränen irgendwann versiegen.

Deswegen ist es wichtig für Therapeut/innen und andere, die traumatisierte Menschen begleiten, dass sie zum Trauern ermutigen und vor allem, dass sie die Trauer teilen. Das geschieht vor allem dadurch, dass Sie auch Ihre eigene Trauer zeigen und mittrauern mit den Menschen, die Sie unterstützen.

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

2 Kommentare zu “Trauern: Das Meer der Tränen

  1. Trauern: Das Meer der Tränen

    Dieser Beitrag tut mir unendlich gut.
    Ich habe in meiner Kindheit schwere Dinge erlebt, die mir jetzt erst im Alter von 65 langsam bewusst werden.
    In einer Art Traumatherapie versucht die Therapeutin die Gefühle Trauer und Tränen möglichst zu umschiffen um bei den reinen Körperempfindungen zu bleiben. Ich finde das nur zum Teil gut. Da ich aber so schwer an meine Tränen herankomme und auch selten für mich weinen kann, finde ich die Tränen ungeheuer befreiend. Im Beisein eines Anderen zu weinen ist noch schwerer und wäre vielleicht noch befreiender. Wenn ich weine habe ich nie das Gefühl darin zu versinken. Es bleibt immer sehr begrenzt.
    Kann es sein, dass die Therapeutin Angst hat, dass ich in einen Zustand komme, aus dem ich nicht mehr aus komme ….?? Sie redet immer was von einer möglichen Retraumatisierung. Ich finde de lösende Wirkung der Trauer und der Tränen wichtiger. Wer soll denn um meine Verletzungen von früher immer mal wieder Tränen vergießen, wenn nicht ich. Dass es mir gut tut, spricht doch gegen eine Retraumatisierung, ODER?
    Kann mir jemand zu diesem Dilemma was sagen?

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