Komplextrauma: Was ist wichtig für die Therapie und die Therapeut*innen

Artikel-Serie "Komplextraumata"


 

 

Das grundlegende Ziel der Therapie besteht oft im bloßen Überleben. Es geht nicht mehr darum, bestimmte Beschwernisse und Hindernisse des Lebens so zu verändern, dass ein glücklicheres Leben möglich ist. Es geht vor allem um die Fähigkeit, zu überleben. Eine Zeitlang redete man in der Politik von „state building“ und meinte damit den Aufbau eines Staates. In Afghanistan ist dies massiv gescheitert, in Mali, dem Sudan und anderen Ländern, in denen dies versucht wurde, gibt es Teilergebnisse – aber nicht viel mehr. Bei Komplextraumatisierungen können wir von einem „ego building“, also einer Heranbildung eines neuen Ichs reden. Dabei ist dies kein Neuaufbau, sondern allenfalls ein Wiederaufbau auf den Ruinen der komplex traumatisierenden Erfahrungen. Teile des Inneren Kerns können genutzt werden, andere sind verloren gegangen. Es geht darum, den Klient*innen die Chance zu geben, eine grundlegende Neuentwicklung des Denkens und Fühlens, der Körperlichkeit, der Werte und der Begegnungsmöglichkeiten zu beginnen bzw. fortzuführen. Angeknüpft und aufgebaut werden muss an der Kraft, die die Menschen im Überlebenskampf gezeigt haben.

Dieser Prozess dauert lange und bedarf sehr kleiner Schritte, die sich in Wellenbewegungen mit Aufs und Abs entwickeln. In den therapeutischen Begegnungen geht es nicht in erster Linie darum, wie Begegnungen erlebt und gestaltet werden können, sondern darum, dass Begegnungen überhaupt möglich sind. All dies entwickelt sich vor allem in der therapeutischen Beziehung mit Erfolgen und Abbrüchen, mit Misstrauen und Idealisierung, auch hier in jedem Fall in kleinsten Schritten.

Für Therapeut*innen, die mit komplex traumatisierten Menschen arbeiten, ist es entscheidend, dass sie um die Qualität der Komplextraumata wissen und eine entsprechende Haltung einnehmen. Viele Menschen mit Komplextraumata brauchen ihre psychischen Erkrankungen oder andere Phänomene ihres Erlebens, um sich vor dem Zusammenbruch und dem Überfluten des Traumaerlebens zu schützen. Alle psychischen Erkrankungen und anderen Phänomene sind Coping-Strategien und haben einen Sinn. Es gilt für die Therapie, den Ehrgeiz zu reduzieren und mit einer Demutshaltung an die Arbeit heranzugehen und dabei die Überlebensfähigkeiten der Menschen zu würdigen. Manches, was in der Blackbox des Erlebens verborgen ist, kann erst sehr spät oder vielleicht auch nie geöffnet werden, da es unaushaltbar ist. Die therapeutische Begleitung kann nicht auf schnelle Fortschritte aus sein, sondern auf Stabilisierung der Fähigkeit zu überleben.

Therapeutische Arbeit mit komplex traumatisierten Menschen bedarf der Dosierung, sonst werden die Fähigkeiten der Therapeut*innen wie die der Klient*nnen überfordert und es droht ein Ausbrennen. Insbesondere ist es notwendig, diese Arbeit nicht allein zu leisten. Die Begleitung eines Klienten oder einer Klientin erfolgt zwar solo, aber die Therapeut*innen brauchen Vernetzungen, Kleingruppen zum Austausch, zur psychischen Entlastung, zur gegenseitigen Stärkung und Stützung. Das Alleinsein danach der Klient*innen ist so stark, dass die Gefahr besteht, dass es auf die Therapeut*innen durchschlägt.

Weitere Artikel dieser Serie:

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

2 Kommentare zu “Komplextrauma: Was ist wichtig für die Therapie und die Therapeut*innen

  1. Hallo Herr Baer, schon öfter habe ich Ihren Blog „durchforstet“ und stoße jedes Mal wieder auf Ihren Beitrag über komplexe Traumatisierungen. Als Betroffene von langjährigem sexuellen Missbrauch durch meine Eltern und andere bin ich schockiert wie aussichtslos bzw. begrenzt sie die Chancen auf ein glückliches Leben darstellen. Ich arbeite seit ca. 30 Jahren in verschiedenen Therapien und kann Ihren Ausführungen widersprechen. Es ist möglich zu sich zurückzufinden, sich zu öffnen und auch „glücklich“ zu sein. Nicht immer, nicht dauernd, aber immer öfter. Notwendig ist m. Erfahrung nach die Bereitschaft sich ganz diesem Weg zu verpflichten, immer wieder über die eigenen Schatten zu springen und auch in die tiefste Dunkelheit einzutauchen in dem Vertrauen, dass Heilung in großen Teilen möglich ist. Ganz wichtig ist ein Therapeut, der oder die bereit ist jede Hölle mit dir zu durchschreiten und Nähe nicht scheut. Ein großes Problem ist dabei die Finanzierung, die allein durch Kassen nicht möglich ist. Zwei Stunden die Woche, teilweise mehr habe ich über Jahre gebraucht, z. großen Teil selbst finanziert, was nur aufgrund eines guten Berufes möglich war. Dass das für mich machbar war, hat sicher auch mit meinen guten Dissoziationsfähigkeiten zu tun, die das ganze Drama erst nach Abschluss meines Studiums hochkommen ließen.
    Das führt jetzt zu weit. Wichtig ist mir, dass es viele Wege gibt auch mit komplexen Traumatisierungen zu leben. Auch welche, die zu weitgehender Heilung und über reines Überleben weit hinaus führen können ..

    • Hallo
      Das ist ja schön, dass es bei Ihnen so gut klappt, aber sehr oft ist das eben nicht der Fall. Ich hab aufgrund dessen weder mein Abitur durchziehen können, noch kann ich kontinuierlich arbeiten. Und das trotz sehr sehr viel ambulanter und stationärer Therapie. Mir hilft dieser Text, da ich dadurch viel weniger das Gefühl habe, zu doof, zu faul oder zu langsam im Leben zu sein, sondern dass meine Voraussetzungen ein gesellschaftlich „normales “ Leben zu führen leider nicht (mehr) vorhanden sind oder halt zerstört wurden. Aber durch die Therapien ist es immerhin mittlerweile möglich, nicht dauerhaft nur zu leiden, manche Momente zu genießen und zu überleben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.