Gastbeitrag aus aktuellem Anlass: „Weil Nähe zählt“, Frauke Grießmann

Weil Nähe zählt/ Frauke Grießmann

 

Frau L. ist bettlägrig. Sie hatte einen Schlaganfall. Hier, im Krankenhaus, soll sie wieder ‚auf die Beine kommen’. Es ist Ende April, die Abstandsregeln gelten. Frau L. darf keinen Besuch empfangen. Sie fragt mich jeden Tag, wo ihr Mann bleibt und er warum er noch nicht da war. Dann erinnere ich sie. „Das ist doch wegen dem blöden Virus, wissen sie. Da darf niemand besucht werden. So was Blödes, nicht wahr?“ Frau L. schimpft, über das blöde Virus, ihren Mann, der trotzdem nicht kommt und sie weint, weil sie ihn so vermisst.

In der Pflege gilt sie als schwierige Patientin. Eine, die nicht mit macht und alles verweigert. Entsprechend wird sie behandelt. Schwierige PatientInnen hat man nicht so gerne …

Ich bin mit meiner Kollegin verabredet. Wir wollen versuchen, Frau L. an die Bettkante zu mobilisieren und das geht, wenn überhaupt, im Moment nur zu zweit. Wir haben eine Flasche kalte Cola dabei. Frau L. hat am Vortag inbrünstig von kalter Cola geschwärmt.

Frau L. begrüßt uns freudig und herzlich. Sie freut sich stets, wenn jemand zu ihr kommt. Nichts ist schwierig. Sie hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, der zum Lachen animiert. Sie fragt nach ihrem Mann, ach ja, das blöde Virus schon wieder, und ob wir den kleinen Chinesen schon gesehen hätten. Nein, haben wir nicht. Außerdem wolle sie nachhause, zu ihrer Mutter, wo sie für ihre Kinder das Mittagessen kochen müsse.

Ich stehe an Frau L.s linker Bettseite und erkläre ihr, dass wir jetzt versuchen möchten, sie ganz vorsichtig an die Bettkante zu setzten.

„NEIN! Lassen sie mich bitte!“

Meine Kollegin und ich bemerken, dass aufgrund der Inkontinenz ein Wechseln der Vorlage und die nötige Intimpflege wichtig wären.

Wir beraten und kurz. Ich erkläre Frau L., dass wir vorhaben, nach der Krankenschwester zu rufen, damit sie entsprechend versorgt kann. Dabei halte ich ihre rechte Hand und schaue ihr über meinen Mund-Nasen-Schutz in die Augen.

„NEIN! Ich will das nicht! Bitte lassen sie mich!“

Es folgen schreckliche 10 Minuten ….

Für alle Beteiligten. Eine bettlägrige alte Frau, 2 Therapeutinnen und 2 Krankenschwestern ringen um das, was notwendig erscheint. Gegen den ausdrücklichen Willen der Patientin. Es ist ein Alptraum.

Frau L. schreit unentwegt. Ich halte ihre rechte Hand, sie hält sich an meiner, so fest mit einer Kraft, als wolle sie sich aus etwas heraus ziehen.

„NEIN, NEIN, NEIN, hört auf, hört doch bitte auf, lasst mich, lasst mich, lasst mich!!!“

Mir stehen die Schweißperlen auf der Stirn, und ich spreche mit Frau L.

„Frau L., schauen sie mich an. Machen sie die Augen auf und schauen sie mich an. Schauen sie in meine Augen! Sie sind im Krankenhaus und werden gerade von der Krankenschwester gewaschen. Ich halte ihre Hand. Spüren sie, wie ich ihre Hand halte? Ich bin bei ihnen und halte ihre Hand. Schauen sie mir weiter in die Augen. So ist es gut …“

Hände halten, Augen halten. Es ist vorbei.

Was bleibt, sind unsere haltenden Hände und unser Blickkontakt. Es ist als hätte sich ihr Blick in meinem verankert. Mir erscheint, als herrsche im Raum unserer Zwischenleiblichkeit eine Klarheit und ein tiefes Einverständnis. Ich frage sie.

„Haben sie in ihrem Leben etwas Schlimmes erlebt, Frau L.?“

„Ja. Ich kann ihnen gar nicht sagen, was alles …“

Ich nicke langsam. Ihr Blick saugt sich an meinem fest. Leise Tränen kullern aus ihren Augenwickeln.

„Wie alt waren sie?“

„Ich war sehr jung.“

„Wie haben sie das überlebt?“

„Ich habe dagegen angeschrieen.“

Hände halten, Augen halten.

Ich werde diese Momente und Augenblicke mit Frau L. nie vergessen.

Einige Zeit später suche ich das Gespräch mit der zuständigen Ärztin. Ich teile ihr meine Eindrücke mit. Von meiner Überzeugung, das Frau L. ein Opfer von Gewalt ist und vor allem in pflegerischen Situationen immer wieder in das Erleben von damals gerät und somit in existentielle Not.

Ich schlage vor, ein festes Team um Frau L. zu bilden, um mit besonderer Achtsamkeit und in gegenseitiger Absprache eine bessere Versorgung für sie zu ermöglichen. Wir haben gerade jetzt die Zeit. Wegen dem blöden Virus …

Dies war die Reaktion: „Na ja, was sollen wir da groß machen. Man kann ein Trauma nun auch nicht von heute auf morgen heilen. Und außerdem ist die Frau doch dement. Woher willst du also wissen, ob das stimmt, was sie sagt?“

Ich erzähle in diesem Artikel über eine Begebenheit aus meiner Praxis im Krankenhaus in Corona-Zeiten. Was Nähe alles sein kein, was Nähe alles bewirken kann.

Es hätte sich jedoch auch zu jeder anderen Zeit abspielen können.

Und doch gibt es einen Unterschied. Da, wo Abstandsregeln den Besuch und die Nähe von angehörigen Menschen unmöglich machen, haben in unserem Haus alle Professionen deutlich mehr Zeit für die Patienten. Haben …. hätten.

Wir haben gerade erheblich weniger Arbeit. Abstandsregel heißt auch, weniger PatientInnen. Heißt, deutlich weniger Stress und mehr Zeit für Zuwendung, Pflege, Therapie.

‚Weil Nähe zählt’. Dies ist das Motto unseres Hauses.

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