Der traumatische Prozess bei Flüchtlingen (Teil 4): Und davor?

 Wir haben Ihnen drei wesentliche Etappen des traumatischen Prozesses beschrieben – vor der Flucht, während der Flucht, nach der Flucht. Doch für viele war die „Zeit davor“ auch schon mit existenzielle Bedrohungen und schrecklichen Erfahrungen verbunden.

Zwei Beispiele:

Eine Frau erzählt: „Mit sechzehn wurde ich in unserem Dorf verheiratet. In ein anderes Dorf. Ich kannte den Mann vorher nicht. Das war eben so. Am Anfang ging es einigermaßen gut, doch als ich das erste Kind bekam, ging er weg. Er trank viel und ging zu anderen Frauen. Ich konnte nichts machen. Ich musste jeden Tag zwölf Stunden für meine Schwiegermutter arbeiten. Er kam nur noch schwer betrunken zu mir und schlug mich jede Woche. Als das zweite Kind kam, lief ich weg. Doch ich wurde wieder eingefangen und verprügelt. Ich bin fast gestorben. Und dann kam der Krieg in die Gegend und zwei Häuser im Dorf verbrannten. Da nahm ich meine Kinder und floh. Ich bekam heimlich etwas Geld von meiner Mutter, die ich zurückließ. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.“

Und eine andere Frau, eine neunzehnjährige Roma, erzählt: „Ich komme aus dem Kosovo. Als ich vier Jahre alt war, habe ich angefangen, zu arbeiten. Mit vierzehn wurde ich verheiratet. Jetzt habe ich fünf Kinder. Als mein Mann mir den linken Arm mehrmals gebrochen hat, versteckte mich mein Bruder. Er schwor Rache und es gab Schießereien. Ich bin dann weg mit meinen Kindern.“

Wir erleben bei Flüchtlingen oft, dass sie, wenn sie einige Zeit in Deutschland sind, ihre Zeiten, ihre Kindheiten oder Jugend im Heimatland verklären. Aus der Ferne und aus dem zeitlichen Abstand wird in der Trauer um die verlorene Heimat vieles schön und schöner als es damals war. Für viele Menschen war die Zeit davor, die Zeit vor der Flucht nicht nur eine gute Zeit, sondern auch eine Zeit der Entbehrungen und traumatisierenden Schreckens. Das gilt insbesondere für viele Frauen und Mädchen, für viele Kinder. Nicht nur die materielle Not, nicht nur die harte Arbeit haben belastet, sondern auch und für viele vor allem die Erfahrungen von Gewalt. Mögen viele Flüchtlinge aus Städten kommen und ein relativ hohes Bildungsniveau erworben haben und vor Krieg und Unterdrückung auf zivilisierte Umgangsformen untereinander zurückschauen können, so gilt das doch für viele andere nicht. Insbesondere Menschen, die vom Land kommen, kennen brutale Gewalt, Unterdrückung, Schläge, Zwang und andere traumatisierende Ereignisse. Für sie beginnt der traumatische Prozess nicht mit der Flucht, sondern schon mit Erfahrungen aus der Zeit davor. Der traumatische Prozess umfasst also für viele Menschen auch diese Phase.

 

Weitere Artikel dieser Serie: << Der traumatische Prozess bei Flüchtlingen (Teil 3): Und dann?

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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