Der Mythos: „Nie mehr abhängig!“

„Du darfst dich nicht abhängig machen!“ – das höre ich von zwei Seiten. Einmal von manchen Psycholog/innen, Therapeut/innen und anderen Ratgebern. Sie hängen dem Mythos nach, dass Menschen nach Unabhängigkeit streben sollen und dass Abhängigkeit Ausdruck der Symbiose ist oder in die Symbiose führt. Theoretischer Hintergrund sind Behauptungen von Fromm, Mahler, Spitz und anderen Psychoanalytikern, dass wir Menschen im Mutterleib und in bestimmten Phasen der Kindheit eine „symbiotische Phase“ leben würden, die es unbedingt zu überwinden gelte, um ein glücklicher Erwachsener zu werden.

Diese Theorien sind schon lange widerlegt. Selbst Babys im Mutterleib sind abhängig UND selbstständig. Säuglinge und Kleinkinder erst recht. Das Gerede von der Symbiose ist ein Mythos. Die Forderung nach Unabhängigkeit ist so falsch und gefährlich. Abgesehen davon, dass das Wort Symbiose in der Biologie das Zusammenleben von Lebewesen „zum gegenseitigen Vorteil“ bezeichnet – können wir Menschen wirklich „unabhängig“ sein?  Ich glaube nicht. Wir brauchen immer andere Menschen, mit denen wir zusammenleben und uns austauschen. Absolute Unabhängigkeit wäre absolute Einsamkeit.

Und erst recht sind wir nicht unabhängig, wenn wir lieben. Ich liebe meine Frau und meine Kinder. Wenn diese Liebe nicht erwidert würde oder wenn ich daran zweifle, dann leide ich. Ich bin als Liebender abhängig. Würde meine Liebe vergehen, würde ich überleben, aber mit Wunden und Narben, verletzt und gekränkt. Ja, wer liebt, ist abhängig. Warum auch nicht?! Das ist Liebe.

Und dann kann unter Anhängigkeit verstanden werden, dass man der Machtausübung anderer ausgeliefert ist. Dem begegne ich bei manchen Menschen, die Erfahrungen traumatisierender Gewalt erleben musste. Nie mehr wollen sie, dass sich das wiederholt. Zu Recht! Sie wehren sich deshalb manchmal gegen jeden Anflug von Abhängigkeit. Das wiederum macht einsam und kann verhindern, dass Liebe zugelassen und gelebt wird. Hier geht es nicht um Abhängigkeit an sich, hier sollte es darum gehen, dass unterschieden wird: zwischen der Abhängigkeit von Menschen, die Macht ausüben und ausnutzen, und der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Menschen, die befreundet sind oder sich lieben.

Wie kann dieser Unterschied festgestellt werden? Ganz einfach und ganz schwer: Er zeigt sich daran, ob Menschen andere entwürdigen oder anderen in Würde begegnen. Die Würde entscheidet.

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

2 Kommentare zu “Der Mythos: „Nie mehr abhängig!“

  1. Super!! Vielen Dank, lieber Udo, für diesen Artikel, der es auf den Punkt bringt. Finde es sehr befreiend, denn ich habe auch schon in Büchern über diese „Abhängigkeit“ gelesen, die so abgeurteilt wird. Du hast differenziert und gut und verständlich erklärt!

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