Das Böse

Wenn wir Therapeutinnen und Therapeuten Menschen begleiten, die Erfahrungen traumatisierter Gewalt machen mussten, dann sind wir oft fassungslos. Fassungslos über das, was Menschen anderen antun. Wir sind fassungslos über Brutalität und Bestialität, über Rohheit und Erniedrigung. Es ist gut, dass wir fassungslos sind, dass wir unsere Hilflosigkeit, unser Entsetzen spüren, da es zeigt, dass wir fähig sind zum Mitgefühl gegenüber denen, die als Opfer leiden müssen. Und doch spüren wir in der Fassungslosigkeit die Maßlosigkeit des Bösen, das den Opfern angetan wird. Das macht hilflos und wirft die Frage auf: Wie kommt es, dass Menschen so böse werden, so bösartig?

Mit dieser Frage beschäftigen sich Menschen, seit sie denken und fühlen können. In jeder Religion gibt es das Böse, gibt es Erklärungsversuche für dessen Existenz. In den Klagen über das Böse und den Versuch, dessen Existenz zu erklären, spüren wir das Entsetzen, das Menschen angesichts des Bösartigen packt und gepackt hat. Das gleiche Entsetzen, das wir heute spüren, wenn wir manchen traumatischen Ereignissen und deren Folgen begegnen. In vielen Religionen wurde das Böse personalisiert – mit dem Teufel und in Göttern, die für bösartige Taten stehen.

Ich vermute, dass Menschen nicht bösartig geboren werden, sondern zu bösartigen gemacht werden. Sicher bin ich mir nicht, doch ich weiß, dass wir bei der Betrachtung von Biographien verrohter Menschen, die böse Taten vollbringen, immer wieder auf die vier Monster der Entwürdigung stoßen: die Gewalt, die Beschämung, die Erniedrigung und das Ins-Leere-gehen-Lassen. Die verrohten Menschen, mit deren Biographien ich mich beschäftigt habe, wurden allesamt nicht so geboren, sondern wurden zu bösartigen Menschen gemacht, indem sie diesen vier Monstern ausgesetzt waren, nicht nur einmalig, sondern systematisch und andauernd, und indem sie ungetröstet blieben und kein Mitgefühl erfahren haben. Das fehlende Mitgefühl und die Leere haben sich in ihnen festgesetzt. Das Gefühl der Gefühllosigkeit, mit dem sie ihre Erfahrungen betäubten, wurde zur Rohheit gegenüber dem Leiden anderer. Sie kannten und kennen in der Regel nur die Alternative, Täter zu sein oder Opfer. Sie haben sich für den Weg des Täters entschieden. Dies ist eine Erklärung, keine Entschuldigung. Die Therapie mit diesen Menschen ist äußerst schwierig. Um von dem Weg der Rohheit und des Bösen zu lassen, müssten sie sich mit den Erfahrungen der eigenen Not auseinandersetzen und wieder berührbar werden für das eigene Leiden. Dies vermeiden die meisten und gehen den Weg bösartiger Verrohung.

Ob das die einzige Erklärung ist, weiß ich nicht. Ich weiß, sie gilt für viele, aber ich bin nicht befugt oder kompetent genug, zu behaupten, dass dies ein Weg ist, den alle Menschen begangen haben, die böse und bösartig sind. Ein gehöriger Rest Fassungslosigkeit und Unverständnis über das, was Menschen anderen antun können, bleibt. So gut meine Kolleginnen und Kollegen und ich geschult sind, uns mit anderen Menschen zu identifizieren und ihr Erleben zu erspüren, so hat dies Grenzen. Mit bestimmten bösartigen Haltungen und Handlungen kann ich mich und mag ich mich nicht identifizieren. Das habe ich für mich akzeptiert.

 

 

 

 

 

About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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