Der wichtigste Faktor, der die Traumaweitergabe ermöglicht und bestimmt, ist die Resonanz. Das Wort Resonanz kommt von dem lateinischen Wort resonare und bedeutet, dass etwas hin- und herschwingt. In der Physik schwingen Schallwellen hin und her, zwischen den Menschen Qualitäten ihres Erlebens. Sie kennen es bestimmt, dass Sie spüren, wenn ein Mensch, der Ihnen begegnet, besonders angespannt ist. Sie spüren die Anspannung wie ihre eigene, zumindest einen Teil davon. Oder Sie treffen eine andere Person und tauschen sich angeregt aus, mit Worten, mit Blicken, mit Gesten. Auch hier schwingt etwas hin und her, was beide Menschen beeinflusst.
Diese Phänomene der Resonanz können sehr unterschiedliche Qualitäten haben, vom Mitgefühl über die ansteckende Langeweile bis zur intensiven Liebe. Sie gehören zum Alltag des menschlichen Miteinanders und sind doch oft schwer in Worte zu fassen. Um die Jahrhundertwende haben die Neurobiologen entdeckt, dass die Resonanz über spezialisierte Gehirnzellen, die sie Spiegelneuronen nennen, nachweisbar ist. Wenn Sie zum Beispiel vor einem anderen Menschen stehen, dessen Schmerzzellen aktiviert werden, weil er sich in seinen Finger piekst, werden auch in Ihrem Gehirn Spiegelneuronen aktiviert und zeigen den Schmerz an, als ob Sie ihn selber erleben würden. Dies vollzieht sich teilweise bewusst, oft aber auch unbewusst und ist letzten Endes die Basis des Mitgefühls – der Fähigkeit von uns Menschen, uns in andere hineinzuversetzen und zu spüren, was sie erleben, im Guten wie im Schlechten.
Über die Spiegelneuronen, über die Resonanzerfahrungen spüren Kinder, was ihre Eltern oder Großeltern erleben. Nicht alles, selbstverständlich nicht, aber vieles und vor allem das, was die Eltern prägt. Dieses Fühlen, dieses Spüren, dieses Weitergeben erfolgt weitgehend unbewusst und ist so wenig zu kontrollieren wie ein ansteckendes Lachen oder Gähnen. Dieser Prozess wird durch einen besonderen Umstand verstärkt: Wenn Kinder bei ihren Eltern ein Geheimnis spüren, dann strengen sie sich besonders an, dieses Geheimnis zu ergründen. Wenn ein Kind merkt, dass die Mutter oder der Vater einen Kummer hat, aber nicht darüber redet und das Kind den Grund des Kummers so nicht ergründen kann, dann entwickelt das Kind besonders starke Antennen für das Geheimnis, für den Kummer, für das Verstecken des Kummers, für die Leere, für das Schweigen … Das bestätigen die Traumaforschungen und die praktischen Erfahrungen der therapeutischen Traumaarbeit. Man kann deshalb zugespitzt sagen: Wenn Sie eine Traumafolge an Ihre Kinder weitergeben wollen, dann verschweigen Sie diese. Sie erreichen dadurch, dass die Kinder besonders neugierig werden und besonders empfänglich für das, woran Sie leiden. Das wollen Sie natürlich nicht, aber Ihre Eltern und Großeltern, die diese Konsequenz höchstwahrscheinlich auch nicht wollten, haben so gelebt und so gehandelt.
Quelle: Baer, Udo/Frick-Baer, Gabriele 2015: Kriegserbe in der Seele
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