Verrat überleben, Verratsfolgen bewältigen (5): Der nützliche Abgrund

Eine Klientin mit massiven Verrats- und Traumaerfahrungen sagte: „Ja, ich schaffe es, zu dem Menschen, der mir das Schlimme angetan hat, Abstand zu halten. Und ich merke auch, das tut mir gut. Es war ein früherer Freund, der mich vergewaltigt hat, und ich fühle mich so von ihm verraten, denn ich habe ihn doch mal geliebt und er mich auch. Für mich ist das immer noch unfassbar. Ich weiß, wo er sich aufhält in der Stadt, und ich gehe dort nicht hin. Mir ist es in den letzten Wochen gelungen, ihm nicht mehr zu begegnen, und es ist gut so. Und doch reicht mir das nicht mit dem inneren Abstand. Irgendetwas fehlt mir noch …“

Ich empfahl ihr, etwas zu suchen, was den inneren Abstand noch vertieft und verstärkt. Sie suchte nach einem inneren Bild. Erst fiel ihr ein Burggraben ein, aber sie sagte: „Ich will mich nicht in einer Burg verstecken. Ich will leben, wo und wie ich es will.“ Dann malte sie das Bild einer Schlucht zwischen zwei Ebenen. Auf der einen Ebene der Täter, der Verräter, auf der anderen Ebene sie, ihre Lebenswelt, in der sie sich aufhielt und frei bewegen konnte. Das Bild der Schlucht half ihr, dass der Täter sie nicht erreichen, der Verräter nicht wieder begegnen konnte.

Ein Abgrund, eine Schlucht sind Imaginationen, die häufig in traumatisierten Menschen entstehen und von ihnen geträumt oder gemalt werden. Sie sind Ausdruck der Bedrohung und machen Angst. In dem Kontext, den die Klientin vorstellte, können Vorstellungen von Abgründen hilfreich und nützlich sein, um Schutz vor und Distanz zu Verräter/innen herzustellen.

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About Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Inhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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